Der Unterschied könnte größer nicht sein. Russland wird vom "strategischen Partner" zur "größten, unmittelbarsten Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum". Außerdem war es Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg Mittwoch in Madrid wichtig zu betonen, dass man China einst "mit keinem Wort erwähnte", jetzt aber zur "Herausforderung für unsere Sicherheit und Werte" hochschraubte. Und auch der Klimawandel schaffte es als "Multiplikator für Sicherheitsrisiken" in die Runde der Bedrohungen.

Der Westen hat einen neuen, alten Feind Nummer eins.
Foto: IMAGO/Jakub Porzycki

Der Fokus der Allianz aber, das ist klar, gehört in Madrid einzig und allein Wladimir Putin, der dem Verteidigungsbündnis mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine – wieder einmal – neues Leben einhauchte. Zum Auftakt des Gipfels war deshalb auch Putins aktuell größter Gegenspieler geladen: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der per Video zur Nato-Versammlung zugeschaltet war: "Dies ist nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, sondern einer, um die zukünftige Weltordnung", betonte er vor den Staats- und Regierungschefs. Es drohen Angriffe auf Nato-Länder, warnte Selenskyj. Dass dies die bald 32 Staaten der Nato ähnlich sehen, ist im Strategiepapier ersichtlich, das dem deutschen Spiegel vorliegt. "Wir können einen Angriff auf die Souveränität und die territoriale Integrität der Alliierten nicht mehr ausschließen", heißt es dort.

Truppenverstärkungen

Der ukrainische Präsident, der weiß, was es bedeutet, von Russland angegriffen zu werden, forderte auch deshalb erneut Militärhilfe – fünf Milliarden Euro im Monat, um Moskau die Stirn bieten zu können. Unterstützungsversprechen gab es, bei zivilen wie militärischen Gütern. Die Waffenlieferungen werden über die einzelnen Mitgliedsländer weitergehen, sagte Stoltenberg. In einer transatlantischen Anstrengung will man die ukrainische Ausrüstung aus Sowjetzeiten auf Nato-Niveau anheben. Der Westen brauche "eine starke unabhängige Ukraine", beteuerte Stoltenberg.

"Wir können einen Angriff auf die Souveränität und territoriale Integrität der Alliierten nicht länger ausschließen."
Nato-Strategiepapier

Der Westen muss aber eben auch von sich aus bereit sein, sich etwaigen russischen Angriffen entgegenzustellen, weshalb die Aufstockung der schnellen Eingreiftruppen der Nato von bisher 40.000 auf über 300.000 Mann besiegelt wurde – einsetzbar ab kommendem Jahr.

Existierende Kampfbataillone an der Nato-Ostflanke sollen ausgebaut, dort aber nicht dauerhaft stationiert werden, sondern nach einem deutschen Vorschlag in Nato-Staaten positioniert bleiben und für Trainingszwecke gelegentlich an die mögliche Front vorrücken.

Comeback der USA

Weil all dies kostet, wurde abermals die Einhaltung der Zwei-Prozent-Regel zur Finanzierung des Bündnisses eingemahnt, wonach alle Mitglieder zwei Prozent ihres Budgethaushalts für Verteidigungsfragen ausgeben müssen. Nur neun von bisher 30 Staaten im Bündnis erfüllten diese "Untergrenze" (Stoltenberg) bisher.

Und dann war da noch der größte Brocken, der erst Stunden vor Beginn des Gipfels beiseitegeräumt wurde: das drohende türkische Veto gegen einen Beitritt Finnlands und Schwedens, auch wenn sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein Ja offenbar teuer abkaufen ließ.

Back in the Game: die USA.
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Die USA, die sich von Europa im Rahmen ihrer strategischen Neuorientierung in Richtung Asien eigentlich zusehends abwenden wollten, sind plötzlich wieder da.

Präsident Joe Biden versprach eine Verstärkung der US-Militärpräsenz in Europa. Vor wenigen Wochen hatte Washington die Truppen in Europa bereits von 80.000 auf 100.000 Personen aufgestockt. Zusätzlich werden zwei neue Geschwader von F-35-Tarnkappen-Kampfflugzeugen in Großbritannien stationiert, zwei weitere Zerstörer an der südspanischen Küste positioniert, die Luftabwehr in Deutschland und Italien verstärkt und in Polen eine permanente Brigade mit eigenem Hauptquartier aufgebaut.

Im Hintergrund spielte auch die Sicherheitslage auf dem Westbalkan eine Rolle. Der Kreml versucht hier über politische Verbündete, allen voran Milorad Dodik, Chef der bosnischen Partei SNSD, die EU und die Nato zu schwächen. Viel Gesprächsstoff für den finalen Gipfeltag am Donnerstag. (Reiner Wandler aus Madrid, Fabian Sommavilla, Adelheid Wölfl, 29.6.2022)