Vorige Woche absolvierte Tschechiens Premier Petr Fiala seinen letzten EU-Gipfel unter französischem Vorsitz. Ab Juli ist er selbst an der Reihe.

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Es ist eine Präsidentschaft im Krisenmodus. Zum zweiten Mal übernimmt Tschechien am Freitag für ein halbes Jahr den Ratsvorsitz in der Europäischen Union. Ein Blick auf die Prager Prioritätenliste zeigt: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt auch hier die Hauptrolle.

Die Bewältigung der Flüchtlingskrise und der Wiederaufbau der Ukraine rangieren gleich an erster Stelle. Auch die politische und militärische Unterstützung für Kiew liege "im vitalen Interesse der EU, um die Sicherheit in Europa zu gewährleisten", heißt es in dem Papier der tschechischen Regierung.

Auch die weiteren Punkte sind zum Teil am Bemühen orientiert, der russischen Aggression auf europäischer Ebene etwas entgegenzusetzen: Energiesicherheit und Erhöhung der Verteidigungskapazitäten – auch gegen Cyberangriffe – gehören ebenso dazu wie die Stärkung der wirtschaftlichen Stabilität und der demokratischen Institutionen.

"Natürlich hat die Invasion in der Ukraine alles geändert", sagt auch der tschechische Politikwissenschafter Jiří Pehe im Gespräch mit dem STANDARD. Kopfzerbrechen bereitet dem Direktor der New York University in Prag allerdings die Frage, ob die tschechischen Ziele überhaupt den politischen Möglichkeiten des Landes entsprechen.

Heikles Thema Migration

Beim Flüchtlingsthema etwa, so Pehe, habe Tschechien mit den anderen Visegrád-Ländern (V4), also Polen, Ungarn und der Slowakei, jahrelang sämtliche Versuche der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik boykottiert. "Die Frage ist, wie stark hier nun die Position eines Landes sein kann, das in der Vergangenheit mit dem Rest Europas nicht besonders solidarisch war", meint Pehe.

Für Flüchtlinge aus der Ukraine – diese können in einem Land ihrer Wahl sofort auf dem europäischen Arbeitsmarkt Aufnahme finden – hat die EU inzwischen aber neue Rahmenbedingungen geschaffen. Auch eine Aufteilung nach Quoten, die nicht nur von den Visegrád-Staaten, sondern auch von anderen Ländern, darunter Österreich, abgelehnt wurde, ist damit aus dem Fokus der Debatten geraten.

Pehe sieht aber noch andere Stolpersteine für den Ratsvorsitz. So könne Tschechien als Land, das nicht der Eurozone angehört, bei wirtschaftspolitischen Reformen nicht so leicht den Ton angeben.

Streit um Rechtsstaatlichkeit

Und noch ein Punkt könne sich als harte Nuss erweisen: "Solange Tschechien im Rahmen der V4 ein enger Verbündeter Ungarns und Polens bleibt, kann es nur schwer die Stärkung der demokratischen Institutionen verlangen", meint Pehe. Budapest und Warschau sind zuletzt wegen Streitigkeiten um die Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien und die Unabhängigkeit der Justiz in die Kritik geraten.

Dennoch: Die rechtsliberale Fünf-Parteien-Koalition in Prag hat immer wieder ihre proeuropäische Haltung betont. Die konservativen Bürgerdemokraten (ODS) von Premier Petr Fiala sitzen im Europäischen Parlament zwar mit der EU-skeptischen polnischen Regierungspartei PiS in einer Fraktion, doch Fiala legt Wert darauf, sich auch in EU-Fragen von seinem Vorgänger Andrej Babiš abzugrenzen. Dessen liberal-populistische Partei Ano gehört in Straßburg zwar der liberalen Fraktion Renew Europe an, Babiš selbst zeigt jedoch gerne seine Nähe zum nationalkonservativen ungarischen Premier Viktor Orbán.

Unschöne Erinnerung

Fiala hat zudem mit Europaminister Mikuláš Bek von der liberalen Partei Stan einen ausgewiesenen Europäer an seiner Seite. Im Interview mit dem STANDARD hat Bek die V4 jüngst als "Kommunikationsplattform" bezeichnet, die längst nicht zu allem eine homogene Meinung habe.

Und nicht zuletzt hat die Koalition in Prag ein weiteres gemeinsames Interesse, das freilich nicht auf der Prioritätenliste steht: Einen Betriebsunfall wie im Jahr 2009, als während der ersten Ratspräsidentschaft des Landes die – ebenfalls ODS-geführte – Regierung über ein Misstrauensvotum gestürzt ist, soll es diesmal keinesfalls geben. Am Mittwochabend vereidigte Präsident Miloš Zeman den neuen Schulminister Vladimír Balaš. Dessen Vorgänger war wegen Nähe zu einem Unternehmer, der unter Korruptionsverdacht steht, zurückgetreten. Nun, rechtzeitig vor der Übernahme des EU-Vorsitzes, ist das Kabinett wieder komplett. (Gerald Schubert aus Prag, 30.6.2022)