Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass jedes Bild eines Menschen auch gegen diesen verwendet werden kann, sagt Nina Schick.

Foto: Nina Schick

Deepfake – also die durch künstliche Intelligenz unterstützte digitale Kopie von realen Personen in Bild und Video – hält Nina Schick für die größte Bedrohung unserer Zeit. Die IT-Expertin hat darüber das vielbeachtete Buch Deepfakes: The Coming Infocalypse (Goldmann, 2020) geschrieben und zuletzt Weltpolitiker wie US-Präsident Joe Biden beraten. Mit dem Anruf durch einen falschen Vitali Klitschko beim Wiener Bürgermeister Michael Ludwig ist das Thema auch in den Niederungen der Lokalpolitik angekommen – wenngleich es wahrscheinlich ist, wie Beobachter mittlerweile meinen, dass der Anruf mit einfacheren Mitteln als durch Deepfake-Technologie zustanden kam. Nina Schick sieht in dieser jedenfalls eine große Bedrohung für uns alle.

STANDARD: Dieser Tage wurden die Bürgermeister von Wien, Berlin und Madrid Opfer von Deepfake-Anrufen* durch einen falschen Vitali Klitschko. Im ersten Moment finden das viele lustig. Sie nicht. Warum?

Schick: Es gibt durchaus Indizien, dass bei dieser Attacke gar keine KI genutzt wurde. Aber abgesehen davon ist der Vorfall beispielhaft dafür, dass im heutigen digitalen Ökosystem jede beliebige Identität gekidnappt werden kann. Deepfake durch KI ist dabei die größte Gefahr für die Unversehrtheit der Persönlichkeitsrechte. Im letzten Jahrzehnt wurde dieses Problem offenkundig. Jede Identität ist heute gefährdet, missbräuchlich verwendet zu werden.

STANDARD: Sie haben Ihr Buch zu Deepfake kurz vor dem Ukraine-Krieg veröffentlicht. Welchen Schaden richtet Deepfake an in Zeiten des Krieges, wo Propaganda und Falschinformation zum Alltag gehören?

Schick: Der Ukraine-Krieg ist beispielhaft für heutige sogenannte hybride Kriege. Es wird nicht mehr nur mit konventionellen Waffen gekämpft, sondern auch mit Information. Und dieser Krieg läuft bereits seit vielen Jahren. Desinformation kostet im Kriegsfall Leben. Deepfake wurde bisher im Krieg noch nicht im großen Stil angewandt, aber ich bin überzeugt, dass das in Zukunft stattfinden wird. Wenn wir uns vorstellen, wie destruktiv bereits konventionelle Fake News sein können, wie schlimm wird das erst mit Deepfake werden?

STANDARD: Sie warnen immer wieder davor, dass Deepfake auch das Vertrauen der Menschen in seriöse Information untergräbt. Was passiert da mit unserer Wahrnehmung?

Schick: Künstliche Intelligenz wird die menschliche Realitätswahrnehmung verzerren, weil sie schon sehr bald dafür eingesetzt werden wird, jeden beliebigen digitalen Inhalt zu kreieren. Die Menschen werden nicht mehr zwischen künstlichen und authentischen Medien unterscheiden können. Künstlich generierte Inhalte werden allgegenwärtig sein.

STANDARD: Das noch größere Problem sehen Sie aber vor allem darin, dass im Internet gepostete Fotos und Videos von Menschen sehr leicht in Pornomaterial verwandelt werden können. Was können wir dagegen tun? Aufhören zu posten?

Schick: Aufhören zu posten ist keine realistische Option, nein. Denn jeder Mensch, der heute Teil des sozialen Lebens sein will, muss einen digitalen Fußabdruck haben – und zwar egal, ob privat oder beruflich. Der einzige Weg, das Problem einzuhegen, ist, dass wir alle verstehen müssen, dass jedes einzelne Bild einer Person gegen diese missbräuchlich verwendet werden kann. Und wir müssen ein digitales Ökosystem bauen, in dem es Sicherheitssysteme gibt, die uns schützen.

STANDARD: Wie sollen die aussehen?

Schick: Für Deepfake wäre eine "Lösung", dass alle authentischen Medien systematisch als real validiert werden, das kann selbst eine KI übernehmen. Eine Art Gütesiegel, das ausweist, was real ist. Außerdem sollten Medien anfangen auszuweisen, wie ihre Inhalte erstellt wurden. Das Offenlegen des Entstehungsprozesses fördert Vertrauen.

STANDARD: Im Kino und in der Popkultur werden mittels Deepfake-Technologie auch immer öfter verstorbene oder für das jeweilige Werk gerade nicht verfügbare Stars zum Leben erweckt. Beispielsweise wurde Arnold Schwarzeneggers Terminatorgesicht auf den Körper eines anderen Muskelmanns kopiert, in "Star Wars" wurde die tote Carrie Fisher als Prinzessin Leia in den Film montiert. Soll dem ein Riegel vorgeschoben werden?

Schick: Diese Technologie eröffnet ungeahnte Möglichkeiten der Kreativität. Wir werden tolle Innovationen im Bereich Kommunikation, Kultur oder Sport erleben. Filmstars beginnen hingegen auch bereits damit, ihre digitalen Zwillinge für Werbezwecke zu lizensieren, andere werden von den Toten auferweckt. Die Herausforderung wird darin bestehen, die Risiken des Missbrauchs zu minimieren und Kreativität weiter zu ermöglichen.

STANDARD: Werden wir überhaupt noch reale Schauspielende sehen wollen, wenn die digitalen Zwillinge es irgendwann sogar besser können?

Schick: Ich bin überzeugt davon, dass KI-kreierte Digitalinhalte zur Norm werden. Das wird unseren Kulturkonsum von "authentischen" Inhalten radikal verändern. Aber das heißt noch nicht, dass reale Akteure ganz verschwinden. Wir werden etwa viel häufiger noch Filme erleben, in denen Schauspielende nur einen Teil der Szenen selbst drehen und der Rest am Computer programmiert wird. (Stefan Weiss, 1.7.2022)