Stefan Marxer ist einer der profundesten Pilzexperten Österreichs, sein Wissen gibt er mittlerweile auch auf Youtube preis.
Rupert Pessl

In meiner Vorstellung waren Pilzsucher ältere Herren, die – ausgestattet mit wetterfester Kleidung und Körbchen – frühmorgens die Wälder durchstreifen. So ist das mit Klischees: Sie sind albern, aber schwer aus dem Kopf zu bekommen. Stefan Marxer trägt kein Körbchen, dafür Shorts, grünes T-Shirt und einfache Turnschuhe, als er zum vereinbarten Treffpunkt am Rande des Wiener Waldes im 14. Bezirk erscheint. Ein junger Mann von 31 Jahren mit ruhigem Gang und lässig zurückgebundenen Haaren.

Marxer ist hier, am westlichen Stadtrand von Wien, aufgewachsen. Die umliegenden Wälder waren sein Abenteuerspielplatz. Sind es bis heute. Mehrmals die Woche durchstreift er sie auf der Suche nach Pilzen. Nicht nur im Herbst, wenn die Sammler in Scharen in die Wälder strömen, sondern auch in Frühling, Sommer und Winter. "Es ist faszinierend, wie viel man das ganze Jahr über sammeln kann", sagt er. Wer nur im Herbst gehe, "versäumt ganze Jahreszeiten".

Rund 4500 Großpilze wachsen in den Wäldern in und um Wien. Ungefähr 50 davon, so schätzt er, seien "wirklich gute Speisepilze", sprich: ungiftig und äußerst schmackhaft. Stefan Marxer kennt sie (fast) alle. Er geht auf Pilzsuche, seit er laufen kann. Er gibt Workshops, hält Vorträge, organisiert Pilzwanderungen. Außerdem hat er ein Buch geschrieben, in dem er erklärt, wie man "die Schätze des Waldes" aufspürt und betreibt einen eigenen Youtube-Kanal zum Thema.

Auch ich koche gerne mit Pilzen. Allerdings stammen meine aus dem Super- oder vom Wochenmarkt. Nicht nur aus Bequemlichkeit, sondern auch wegen der Schauergeschichten über Hobbysammler, die mit Lebensmittelvergiftung im Spital landen. "Die Angst geht immer mit", meint Marxer. Weil man diese Geschichten schon im Kindergarten höre. Auf seinen Wanderungen will er den Menschen diese Angst nehmen.

Der Quatsch mit der Wurzel

Wir treffen uns an einem sonnigen Junimorgen. Der Regen der vergangenen Wochen hat die Wälder in ein leuchtend grünes Postkartenidyll verwandelt. Schnell verlassen wir die Wege, biegen auf dicht bewachsene Pfade ab, denn: "Wer was finden will, muss tief rein in den Wald." Wir steigen über Wurzeln und Büsche. Das Blätterrascheln, der Wind und die Vögel sind alles, was man hört.

In den Wäldern rund um Wien findet man nun Eierschwammerln und Steinpilze – man muss nur wissen, wo.
Foto: Stefan Marxer

Zielsicher geht Marxer voran. "Dieser Buchenwald mit viel Moos, Totholz und Laubinseln ist ideal. Das ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis wir was finden." Wenige Sekunden später: "Ah ja, da ist schon einer." Ein Eichensteinpilz. Sie wachsen gerne unter Eichen, Buchen oder Kastanien. Mit einem kleinen Taschenmesser trennt er ihn ab. Könnte man ihn auch rausdrehen, oder (mein Pilzhalbwissen) beschädigt man dabei die Wurzel? Das mit der Wurzel sei Quatsch, sagt Marxer. Pilze wachsen unterirdisch. "Was wir sehen und ernten, ist nur der Fruchtkörper." Deswegen sei es auch so wichtig, immer ein paar stehenzulassen. So können sie aussporen und sich weiter vermehren. Der Eichensteinpilz, auch Sommersteinpilz genannt, ist einer der beliebtesten Speisepilze und wandert daher unbedingt ins mitgebrachte Säckchen.

Wie ist das nun mit den giftigen Exemplaren? Weniger als ein Prozent der hier wachsenden Pilze sei tödlich giftig – zehn, vielleicht zwanzig Arten. Die meisten Lebensmittelvergiftungen, sagt Marxer, seien eine Folge von falscher Zubereitung – wenn sie nicht ausreichend erhitzt werden – oder weil alte Pilze gesammelt werden. Erst an dritter Stelle komme das Problem mit der Verwechslung.

"Hier haben wir einen Flockenstieligen Hexenröhrling: Klingt giftig, schmeckt aber großartig!" Ein knubbeliges Exemplar mit braunem, samtigem Hut und orange-rot gepunktetem Stiel. Man erkennt ihn auch an seinem Fleisch, das sich dunkelblau verfärbt, sobald man es anschneidet. Auf seinen Wanderungen will Marxer den Leuten zeigen, dass der Wald mehr zu bieten hat als Steinpilz und Eierschwammerl. Verschiedene Pilze zu sammeln, sei nicht nur spannender, sondern auch besser für die Umwelt. Auch darum geht es ihm, den "achtsamen Zugang". Nicht zu viel von einer Art sammeln. Seltene Exemplare stehen lassen. Giftige nicht mutwillig umwerfen, "eine Unart, die früher weit verbreitet war".

Eine kulinarische Empfehlung: die Pilze trocknen und zu Pulver vermahlen. Das verhilft Suppen und Soßen zum vielbeschworenen Umami, der aromatischen Tiefe.
Rupert Pessl

Schon seine Eltern und Großeltern waren leidenschaftliche Sammler, sein Detailwissen aber hat er sich selbst angeeignet. In der Ausbildung "beschränkt sich das Pilzthema auf einen Spaziergang im Kindergarten", selbst in seinem Studium der Agrarwissenschaften taucht es nur am Rande auf. Die Universität für Bodenkultur, an der er derzeit seinen Doktor macht, überlegt daher, ihm eine Lehrveranstaltung zum Thema Pilze einzurichten. Bis heute ist vieles unerforscht. Erst langsam erkennt man, welch wichtige Rolle die Pilze im Ökosystem spielen. Wie fatal es daher ist, dass ihre Anzahl aufgrund von intensiver Forstwirtschaft, Waldzerstörung und Klimawandel immer weiter zurückgeht.

Auf der Spur der Heidelbeere

Wir stehen auf einer Lichtung. "Dieser Hang war in meiner Kindheit voll mit Pilzen", erzählt er. Es dauert nicht lange, da hat er etwas entdeckt. "Hier hab ich noch was Schönes", ruft Marxer, der vor einem kleinen Strauch kniet. Wilde Heidelbeeren – ein Indikator für sauren Boden, was vor allem Steinpilze und Eierschwammerln lieben, wie er erklärt. Ganz in der Nähe versteckt sich ein Feld zwischen Laub und Moos. "Da haben wir Glück! Das habe ich in dieser Gegend jahrelang nicht gesehen." Der April und Mai waren recht feucht, das kommt den Pilzen zugute. Sammeln sollte man nur jene, die "gelb wie ein Eigelb" sind. Wenn sie sich am Rand orange verfärben, sind sie alt und oft schimmlig. Auch alle mit "Untermietern", sprich Würmern, sollte man nicht essen. Schneckenschleim sei hingegen kein Problem, den könne man einfach abbürsten.

Normalerweise darf Stefan Marxer auf seinen Touren nur zeigen und erklären. Der Gesetzgeber verbietet "Pilz- und Beerensammelveranstaltungen". Laut Pilzverordnung darf außerdem nur für den Eigenbedarf gesammelt werden: Wer mehr als zwei Kilo pro Person und Tag mitnimmt, riskiert hohe Geldstrafen. Mit den strengen Vorgaben hat er kein Problem. Im Gegenteil: Er würde sich wünschen, dass das Sammeln strenger kontrolliert würde. Rund ein Drittel der heimischen Pilze sei geschützt oder als bedroht deklariert. Verstöße würden allerdings kaum geahndet.

Bereits als Kind war Stefan Marxer von Pilzen begeistert, heute verdient er mit dem einstigen Hobby sein Geld.
Foto: Stefan Marxer

Pilze – giftige wie essbare – sind immens wichtig für das Ökosystem, sagt Marxer. Ohne sie könnten die Wälder nicht überleben. Wie bei Pflanzen und Tieren gibt es auch bei Pilzen unterschiedliche Lebensweisen. Mykorrhizapilze – wozu Steinpilze und Eierschwammerln gehören – leben in Symbiose mit Bäumen. Sie umhüllen deren Feinwurzeln mit einem dichten Fadengeflecht. Daher auch der Name: Das griechische Wort Mykorrhiza bedeutet "Pilzwurzel". Durch diese verpilzten Wurzeln versorgt der Pilz den Baum mit wertvollem Stickstoff und Phosphor, die er aus dem Boden aufgenommen hat, im Gegenzug erhält er das Fotosyntheseprodukt Zucker. Diese Symbiose kann bis heute nicht künstlich hergestellt werden, erklärt Marxer, weshalb Eierschwammerln und Co nicht gezüchtet werden können. Viele Mykorrhizapilze aber sind standorttreu, wachsen über Jahrzehnte an denselben Stellen. "Sammler wissen, wo sie suchen müssen."

Müllabfuhr des Waldes

Die zweite Gruppe sind die parasitären Pilze. Klingt weniger erfreulich, ist für das Ökosystem des Waldes aber genauso wichtig. Sie befallen Bäume, meist kranke, wodurch diese absterben. Die Müllabfuhr des Waldes, sozusagen. Anschließend gehen die Saprophyten ans Werk. Sie zersetzen das abgestorbene Material und machen die Nährstoffe für andere verfügbar. Das wäre dann die Recyclinganlage. "Ohne Pilze würde der Wald an Totholz, Laub und Nadeln ersticken", sagt Marxer. Da sich Saprophyten wie Austernseitlinge, Shiitake und Champignons von Biomasse ernähren, können sie einfach gezüchtet werden – etwa auf Kaffeesatz, wie es die Wiener Pilzbrüder tun.

Ich frage nach seinen liebsten Pilzrezepten. Sein Tipp: trocknen und zu Pulver mahlen. So verleihen sie Suppen und Soßen aromatische Tiefe, das vielbeschworene Umami. Neben kulinarischen Genüssen geht es ihm vor allem um die Freude am Draußensein und das Glück des Findens. Das Umherstreifen durch Büsche, das Spähen unter Wurzeln und Laubhaufen – es erinnert ein wenig ans Ostereiersuchen. "Sobald man die Hauptwege verlässt, ist das Sammeln ein sehr exklusives Unternehmen", sagt er. "Man vergisst alles um sich herum." Meditativ sei das.

Mykohunter365

Vor eineinhalb Jahren hat sich der "Pilzvergnügte" Stefan Marxer selbstständig gemacht. Sein Geld verdient er außer mit Wanderungen, Seminaren und dem Buch mittlerweile auch durch Werbung auf seinem Youtube-Kanal, der zu den erfolgreichsten im deutschsprachigen Raum gehört. Mit seinem besten Freund Daniel Schwingenschlögl, einem Videoproduzenten, ist er mehrmals die Woche im Wald unterwegs, um Videos zu drehen. Vor allem in Deutschland hat er viele Zuschauer, weshalb er – ein Wiener Kind – sich irgendwann "assimiliert" hat und nunmehr meist von Pilzen statt Schwammerln spricht.

Stefan Marxers Enthusiasmus ist ansteckend. Als wir uns nach eineinhalb Stunden verabschieden, bin ich fest entschlossen, bald wieder in die Wälder aufzubrechen. Die gesammelten Eierschwammerl gibt es später zum Abendessen. Lediglich mit ein paar Zwiebeln in Butter angebraten. Ein köstlicher Klassiker – der, im Wissen, dass man die Zutaten selbst gesammelt hat, gleich noch viel besser schmeckt. (Verena Carola Mayer, 2.7.2022)