"Diesmal werden sie nicht mehr nach Hause gehen", sagt die Georgierin Eto Buziashwili über die für Sonntag erneut zu erwartenden Massenproteste in Tiflis. Mehr als 100.000 waren es vor knapp zwei Wochen. Und viele Georgierinnen sind nach wie vor wütend. Niemand rechnet zudem mit der Erfüllung des Ultimatums von Zivilgesellschaft und Opposition, das einen Rücktritt der Regierung Irakli Gharibaschwilis bis Sonntag fordert, weshalb man den Druck erhöhen will – "mit friedlichen Mitteln", wie Buziashwili vom Thinktank Atlantic Council im STANDARD-Gespräch betont. Die Demokratiebewegung fordert eine Technokratenregierung, bis Neuwahlen ausgerufen werden.

Dass es letztlich friedlich bleiben wird, ist nicht in Stein gemeißelt. Denn im Südkaukasus findet seit geraumer Zeit eine bemerkenswerte Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten statt. Fast 90 Prozent der Bevölkerung haben zuletzt in Umfragen ihren Wunsch nach einer verstärkten Annäherung Georgiens an die EU ausgedrückt.

Die EU-Flagge ist in Georgien seit Jahren präsenter als in manch europäischem Staat.
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Bis auf die von der EU Anfang des Jahres ausgesprochene und angenommene Einladung, die Bewerbungsunterlagen für einen Beitritt abzugeben, unternimmt die Regierung aber wenig, um den Weg dorthin tatsächlich zu ebnen. Zwölf Punkte gilt es bis Jahresende noch abzuarbeiten, ehe die EU die Beitrittskriterien erneut evaluiert. Die Ukraine und Moldau haben ihren Kandidatenstatus bereits bekommen, Georgien muss noch abliefern. Viele sprechen von einer historischen Chance.

Attacken auf Demokratie

Doch die Regierung, gelenkt durch den eigentlichen "Schattenherrscher", den prorussischen Oligarchen Bidsina Iwanischwili, lasse die Bevölkerung im Stich, sagt Buziashwili. "Sie wird zu Recht für die Rückschritte in Demokratiefragen, für die fehlenden Justizreformen, ihren Druck auf freie Medien sowie die Zivilgesellschaft kritisiert."

Tatsächlich musste die relativ junge Demokratie – geformt nach der Rosenrevolution 2003 – nach vielen Aufs und Abs zuletzt wieder herbe Rückschläge hinnehmen. Vor einem Jahr wurden dutzende Journalistinnen und Journalisten vor einer Pride-Demo der LGBTIQ-Community belästigt und verprügelt, weil sie "homosexuelle Ideologie" verbreiten. Bei der Attacke prorussischer Rechtspopulisten starb ein Kameramann, während die Polizeibehörden zu lange gewähren ließen. Die EU kritisiert den fehlenden Schutz vulnerabler Gruppen.

Generell zieht Russland im Hintergrund immer wieder die Strippen, wenn es etwa prorussische Parteien oder Online-Medien finanziert.

Zudem soll die Überwachung durch die staatlichen Sicherheitsapparate neue Ausmaße annehmen. Ein Leak zeigte zuletzt, wie dicht das Abhörnetz war, das über die Kirche und Botschaften gespannt wurde. "Und wenn sie schon die Kirche so abhören, will man sich nicht ausmalen, was sie mit Medien und der Zivilgesellschaft machen", sagt Buziashwili.

Schleichende Annexion

Die auf Desinformationskampagnen spezialisierte Expertin kritisiert dabei, dass die pro-russischen Parteien selbst regelmäßig Fake News in die Welt setze und Kreml-Spins verbreiten. Etwa dass die EU alles Traditionelle und Religiöse verbieten wolle. Sogar die Regierung behauptet, dass der Westen versuche, Georgien mit seiner EU-Annäherung in den Ukraine-Krieg hineinzuziehen, um so eine zusätzliche Front für Russland zu eröffnen. Auch habe die Regierung verhindert, dass Präsidentin Salome Surabischwili in europäischen Hauptstädten für einen EU-Beitritt Georgiens die Werbetrommel rührte. Wie schon bei der russischen Invasion 2008 sei aber nicht die Nato das Problem, sagt Buziashwili, sondern die Ablehnung Moskaus gegenüber Demokratien in seiner direkten Nachbarschaft.

"Wir sind Europa" stand zuletzt auf den Schildern der Demonstrierenden.
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Russland könnte auch versuchen Abchasien und Südossetien, jene Landesteile, die man seit 2008 besetzt hält, jederzeit besetzen sagt Buziashwili. Schon jetzt würden Grenzposten zu den russisch kontrollierten Regionen regelmäßig verschoben. "So kann ich irgendwann auch vor Tiflis stehen", sagt sie. Oppositionelle und kritische Stimmen werden darüber hinaus leise gemacht oder gekidnappt.

Spannend ist auch die Rolle der zahlreichen geflüchteten Russen im Land, die – neben tausenden ukrainischen Schutzsuchenden – vor Putin ins südliche Nachbarland geflohen sind. Einerseits häufe sich die Kritik, dass sie sich öffentlich oftmals nicht gegen Putin positionieren und bei den Antikriegsdemos große Abwesende sind. Viele in Georgien beschleicht deshalb das Gefühl, dass jene Russinnen und Russen nur deshalb geflohen sind, weil sie ihren Lebensstatus erhalten und auf keinerlei täglichen Luxus verzichten wollen.

Vor allem aber gebe es zusehends mehr Stimmen, die aus sicherheitspolitischer Sicht eine Bedrohung für Georgien orten. Mit zehntausenden russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern auf georgischem Boden könnte Putin oder ein anderer russischer Herrscher eines Tages argumentieren, er müsse deren Interessen schützen. Mit einer ähnlichen Argumentation überfiel Putin ja bereits die Ostukraine. (Fabian Sommavilla, 2.7.2022)