
Kaiserin des stummen Schreis: Vicky Krieps als Elisabeth in "Corsage".
Mit der Naivität und dem Kitsch der Sissi-Filme hat diese Kaiserin Elisabeth fast gar nichts gemeinsam. Corsage zeigt eine Monarchin, die des Repräsentierens überdrüssig ist. Sie begehrt auf, sie raucht, sie schneidet sich die Haare ab. Die Österreicherin Marie Kreutzer porträtiert sie als eigensinnige, zu Provokationen neigende Frau, die in Gemütszuständen schillert – irgendwo zwischen Schwermut und Aufsässigkeit. In der Schauspielerin Vicky Krieps hat Kreutzer eine ideale Darstellerin gefunden, die den Film wesentlich mitgestaltet, denn sie verleiht Sisis Auflehnung existenzielles Gewicht. Auf dem Filmfestival Cannes bekam die Luxemburgerin, die in den letzten Jahren zu einem Star des europäischen Arthouse-Kinos gewachsen ist, dafür verdient einen Darstellerinnenpreis.
STANDARD: Sie waren es, die Marie Kreutzer die Idee zu einem neuen Sisi-Film in den Kopf pflanzte. Erinnern Sie sich noch, wann Sie die alten Filme zuerst sahen?
Krieps: Ich bin in einem Hippie-ähnlichen Haushalt aufgewachsen, in dem nur Mick Jagger und Janis Joplin gespielt wurden. Meine Nachbarn waren jedoch anders, deshalb war es faszinierend und exotisch, dort einen Prinzessinnenfilm zu sehen. Danach, ich war etwa 14, habe ich eine Biografie über Kaiserin Elisabeth gelesen. Dabei bin ich über mehrere Dinge gestolpert. Ich spürte da ein Mysterium. Sie lässt sich Fitnessgeräte bauen? Sie lässt sich nicht mehr malen? Das hinterließ bei mir ein großes Fragezeichen.
STANDARD: In "Corsage" begehrt die Kaiserin gegen ihr öffentliches Bild auf. Wie spielt man jemanden, der sein eigenes Bild ablehnt?
Krieps: Das war eine Berg-und-Tal-Fahrt, bei der mir oft schwindlig wurde. Es war anstrengend, in diese Elisabeth hineinzublicken. Und düster, richtig schwarz. Sisi rebelliert gegen ihr Bild, aber wenn ich sie mir aneignen möchte, muss ich natürlich das Gegenteil machen. Ich muss alles annehmen, auch das Schlechte an ihr. Das heißt, ich musste mich ihren Kaprizen und merkwürdigen Emotionen öffnen; auch dieser verschrobenen Sexualität.
STANDARD: Muss man seine Figur mögen?
Krieps: Nein, aber ich sage immer: Die Figuren müssen zu mir reden. Sisi hat auch zu mir geredet. Ich weiß nicht, ob ich sie gemocht habe. Teile von ihr – vielleicht. Vor allem konnte ich sehr gut nachvollziehen, verstehen, warum sie in dieser Rolle so wurde. Ich selbst bin ganz anders. Ich habe letztes Jahr eine Grenzpolizistin gespielt, das ist auch weit weg von mir, aber nicht so weit weg wie die Sisi. Dieses Verhaltene an ihr, diese Kontrolle liegt mir normalerweise überhaupt nicht.
STANDARD: Kann man das nach dem Dreh überhaupt ablegen?
Krieps: Es war wirklich die Rolle, die mir bisher am meisten abverlangt hat. Körperlich, seelisch. Normalerweise gehe ich spazieren, in die Natur hinaus, und versuche, nichts zu tun zu haben, um abzuschalten. Hier gab es kein Entkommen. Ich war genauso gefangen in der Figur wie diese in ihrem Leben.
STANDARD: Dafür steht auch sinnbildlich das Korsett, in dem Sie die meiste Zeit gedreht haben. Wie stark hat das Ihr Spiel mitgeprägt?
Krieps: Ich weigere mich zu sagen, dass es meinem Spiel geholfen hat. Ich hasse dieses Teil so sehr! Es hat mich vor allem eingeschränkt. Beispielsweise meine Gefühle im Solarplexus: Ich wurde sofort traurig, wenn ich das Korsett anhatte. Und wenn ich es abends auszog, habe ich angefangen zu lachen. Das ist keine Übertreibung, ich konnte es selbst kaum glauben. Das Korsett hat natürlich geholfen, einen Ausdruck zu formen: diesen stummen Schrei, diese innere Verzweiflung. Es ist wie in der ersten Einstellung des Films: Es gibt ein langes Einatmen, auf das kein Ausatmen folgt. Und so war der ganze Dreh: Die Tränen, die Wut konnten nicht aus mir heraus.
STANDARD: Sie kamen auch immer als Letzte ans Set, um die Distanz zu den anderen zu betonen, richtig?
Krieps: Das habe ich mir am Anfang überlegt. Wie kann ich die Sisi behaupten? Ich, Vicky aus Luxemburg, diesem Bauernland. Ich musste also ein Feld um mich herum inszenieren. Auch um mich zu schützen, damit ich nicht ständig wen frage: "Geht’s dir nicht gut?!" Ich nehme sonst ja alle in den Arm.
STANDARD: Wie sehr kam Ihnen die Möglichkeit, so viel selbst zu gestalten, entgegen?
Krieps: Sehr, ich lerne zum Beispiel auch meinen Text nicht. Ich glaube nicht an die perfekte Vorbereitung und bin kein Freund von Hausaufgaben. Wenn man Kunst macht, ist es spannender, wenn man nicht weiß, wohin die Reise geht. Ich laufe lieber blind. Mit Paul Thomas Anderson konnte ich das in Der seidene Faden auch. Ich bereite mich vor, lerne Reiten und Fechten, Eisschwimmen und Ungarisch – aber am Ende möchte ich, dass etwas Neues entsteht. Der Zuschauer soll an etwas teilhaben können, das nicht einfach vorgespielt ist. Mich interessiert das Scheitern mehr. Natürlich versuche ich, zu gewinnen, aber ich weiß, dass mir das vielleicht nie gelingen wird. Der Glaube, man könnte etwas perfektionieren, ist die viel größere Illusion.
STANDARD: Suchen Sie in diesem Sinn auch die Arbeiten aus? Nach der Devise: Ich forme meine Laufbahn selbst.
Krieps: Ich forme sie, ohne sie bewusst zu formen. Ich hatte nie einen Karriereplan. Ich könnte auch nicht sagen, wohin ich will. Aber wenn ich zurückblicke, dann sehe ich eine Spur, als hätte ich mir das alles vorgenommen – oder es entworfen. Das hat mit meinen Herzensentscheidungen und mit diesem Regiedenken zu tun. Ich möchte mich immer selber besser verstehen. Jede Rolle hilft mir etwa dabei, herauszufinden, warum ich als Frau an gewisse Muster gebunden bin.
STANDARD: Ihre Rollenwahl zeugt von Freiheit – wenn dann auch "Das Boot" dabei ist.
Krieps: Oder der Horrorfilm Old. Das ist das Schelmische an mir. Das erlaub ich mir einfach. Es amüsiert mich, wenn Leute denken: "Ach, das ist doch diese Arthouse-Schauspielerin." Das liegt an meiner Neugierde am Leben. Ich liebe es, Dinge umzuwerfen und meine Spuren zu verwischen. (INTERVIEW: Dominik Kamalzadeh, 2.7.2022)