Anfang Juni war es in allen Medien: 3.300 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in über 70 britischen Betrieben reduzieren ihre Arbeitszeit auf 80 Prozent bei 100-prozentiger Gehaltszahlung. Gearbeitet wird nur noch vier Tage die Woche. Sechs Monate soll die wissenschaftlich begleitete Testphase dauern, erwartet werde eine unveränderte 100-prozentige Produktivität. Wird hier ein neues Kapitel der "Zukunft der Arbeit" geschrieben?

Das Modell unterstellt einen beeindruckend hohen Produktivitätszuwachs. Doch ist das realistisch? Ist es vernünftig? Ist es gesund, und wem nützt es? Für einen immer größeren Teil der Arbeitswelt, nämlich alle Berufe im Bereich der informationsschaffenden und informationsverarbeitenden Arbeit, haben die vergangenen zweieinhalb Jahre der Pandemie tatsächlich mehr Veränderungen der Arbeitsweise gebracht als die gesamten zehn Jahre zuvor.

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100 Prozent Gehalt, 80 Prozent Arbeitszeit, 100 Prozent Leistung – in Großbritannien wird die Viertagewoche großflächig getestet.
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Digitalisierung

Bei genauerer Betrachtung sind es vor allem die vielfältigen Formen der Digitalisierung, die für Produktivitätsgewinne verantwortlich sind. Diese Produktivitätszugewinne aus dem digitalen Arbeiten verlangen aber zuallererst Investitionen in neue Arbeitsweisen, das Aneignen von Tools und damit auch neue Anforderungen für alle Arbeitnehmerinnen. Das arbeitsbegleitende Lernen bringt für alle große Herausforderungen. Denn heute sind oft vier Generationen in den Betrieben tätig, die unterschiedliche Räume und Zeit für die notwendigen Lernprozesse brauchen. Darin liegt die Gefahr, dass Personen, die nicht ganz so schnell mitkommen, auch aus diesen Arbeitsprozessen herausgekippt werden können. Aber in Summe zahlen all diese Veränderungen in positiver Weise in dieses ehrgeizige 100/80/100-Modell Großbritanniens ein.

Die Schattenseite dieser veränderten Arbeitswelt zeigt sich vor allem in einer Isolation, einer Selbstüberforderung durch die hohe Autonomie in der Arbeitsgestaltung und im schmerzlichen Fehlen von sozialen Begegnungen. Hier können Chancen rasch zur Bedrohung werden, eine geringere Bindung und Verbundenheit mit Kolleginnen und Kollegen und auch dem Unternehmen selbst tragen zu unerwünschter Fluktuation bei. Sollte das Konzept der Viertagewoche meinen, dass diese soziale Zeit einzusparen wäre, wäre das unternehmerische Scheitern mit großer Sicherheit zu erwarten. Reine Arbeitsverdichtung ist das Letzte, was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Moment brauchen und wollen.

Orts- und zeitgebunden

Ein weiterer Aspekt ist, dass viel gesellschaftlich höchst relevante Arbeit zeitfest und ortsgebunden ist. Ob im direkten Produktionsprozess, Berufe in der Erziehung oder im Gesundheitsbereich, viele Tätigkeiten im Handel, Gewerbe und Tourismus sind an fixe Arbeitszeiten gebunden. Hier würde eine Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich ein politisches Verhandlungsprojekt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen sein. Arbeitszeitverkürzungen würden so gut wie linear neue Arbeitskapazitäten notwendig machen. Nur in vielen dieser Branchen herrscht schon jetzt akuter Personalmangel.

Es ist wohl notwendig, dass jede Branche und alle Unternehmen ihren eigenen Weg gehen, wie die Arbeitswelt der Zukunft aussehen soll. Dabei sind Lage, Umfang und Festlegung der Arbeitszeiten ein wichtiger Gestaltungsraum. Wo Freiräume möglich sind, sollen sie durch Durchrechnungszeiträume, Gleitzeitsalden, verbunden mit einer Vereinbarungskultur, Rahmenbedingungen schaffen, die den Ansprüchen von Kunden, Mitarbeitenden und Unternehmen entsprechen und letztendlich auf Kompromiss- und Konsensmodelle hinauslaufen. Gerade bei zeitgebundenen Berufen ist Sicherheit und Planbarkeit von Dienstplänen ein wichtiger Hygienefaktor und auch Voraussetzung für Familienfreundlichkeit.

Qualität sicherstellen

Für alle Branchen muss gelten: Homeoffice, wo immer möglich, soll Teil einer neuen Arbeitskultur werden und gleichzeitig ist es Aufgabe von Unternehmen, Führungskräften und Mitarbeitenden, auch gemeinsame Vor-Ort-Zeit zu schaffen, um jene Qualitäten sicherzustellen, die für ein produktives Miteinander unabdingbare Voraussetzung sind. Sich zu kennen und in der Arbeit zu erleben, persönliche Begegnungen und informelle Gespräche sind schlichtes Grundbedürfnis von uns allen als soziale Wesen.

Investitionen in Digitalisierung müssen in allen Branchen weiter vorangetrieben werden, und zwar so, dass sich die Arbeit selbst verändert. Wenn man in diesem Veränderungsprozess auch sinnlose Tätigkeiten entdeckt, also die klassische Bullshit-Work weniger wird, ist das sicher ein gemeinsames Interesse aller Beteiligten. Und wenn hochrepetitive, wenig spannende und monotone administrative Arbeiten durch Digitalisierung roboterisiert werden, sollte nicht nur Zeit gespart werden, sondern auch überlegt werden, wie diese Produktivitätsgewinne im Sinne unternehmerischer Innovation für Kunden- und Mitarbeiterbindung verwendet werden können.

Entscheidender Faktor

All diese Veränderungen verlangen sorgfältige Beobachtung und Reflexion, was gut und was weniger gut läuft. Experimente, wie die Viertagewoche mit dem Anspruch 100/80/100, können Quelle von Erkenntnissen und Weiterentwicklung sein. Zu glauben, dass man sie trivial kopieren oder transferieren kann, wäre eine Illusion oder mehr noch ein fataler Trugschluss. Viel sinnvoller wäre ein systematischer und organisierter Erfahrungsaustausch zwischen heimischen Betrieben in verschiedensten Branchen, die hier innovative Wege gehen.

Es gibt in Österreich geförderte Beratungsprogramme im Rahmen des europäischen Sozialfonds und auch im Rahmen des Unternehmensservice des AMS, die genau das leisten. Wir können stolz darauf sein, dass wir durch solche Programme in Europa eine Vorreiterrolle haben. Die Gestaltung der Zukunft der Arbeitswelt "made in Austria" wird gerade in den kommenden Jahren ein entscheidender Faktor für den Wirtschaftsstandort Österreich sein. (Christian Havranek, 5.7.2022)