Die Bilder aus London, Amsterdam oder Wien von sich türmendem Gepäck und langen Warteschlangen ähneln einander.

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Wir schreiben Donnerstag, den 30. Juni, 22.30 Uhr. Als die Boeing 737 von Ryanair auf der Startbahn des Londoner Flughafens Stansted beschleunigt, ist in der vollbesetzten Maschine ein kurzes einsames Klatschen zu hören. Ob es sarkastisch verzweifelt oder erleichtert gemeint ist, ist in dem Moment schwer auszumachen. Die übrigen Fluggäste ignorieren den emotionalen Mini-Ausbruch. Nach drei Stunden Wartezeit am Gate und auf dem Rollfeld sind die meisten trotz Verspätung einfach nur froh, überhaupt nach Wien starten zu können.

Denn an diesem besagten Donnerstag geht anderswo in London praktisch nichts mehr. Allein in Heathrow fallen 30 Flüge aus, nachdem 6400 Passagiere bereits eingecheckt und ihr Gepäck abgegeben haben. Auch in den anderen, kleineren Flughäfen Luton und Gatwick kommt es zu Flugverzögerungen und Ausfällen. Grund für das europaweite Flugchaos ist fehlendes Personal auf Flughäfen und in der Luftsicherung. Die Fluglinien selbst beteuern, personell eigentlich gut aufgestellt zu sein. Sie haben, wie zuletzt etwa Austrian Airlines, aber offenbar mit kurzfristigen Corona-Ausfällen in der Belegschaft zu kämpfen.

Nervenaufreibende Odyssee

"Ich arbeite seit sechs Jahren bei Ryanair, aber so schlimm wie jetzt war die Situation noch nie", sagt Flugbegleiterin Bianca, die sich dem STANDARD nur mit ihrem Vornamen vorstellt. In praktisch jedem europäischen Flughafen komme es zu Verzögerungen bei Start, Landung oder Abfertigung. Durch die aufgerissenen Verspätungen können die zugeteilten Flugkorridore nicht eingehalten werden. Das Flugzeug muss dann wie beim Donnerstagsflug am Gate oder auf dem Rollfeld stundenlang auf ein neues Zeitfenster warten.

In fast allen europäischen Städten werden aufgrund von Personalmangel Flüge verschoben oder gleich ganz gestrichen. Passagiere sind dabei oftmals auf sich allein gestellt.
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Für manche Passagiere endet mit dem verspäteten Abflug aus Stansted eine noch längere, nervenaufreibende Odyssee, die schon 30 Stunden zuvor am Mittwoch in London Heathrow begann. Auch in meiner Reisegruppe – Journalistinnen und Journalisten aus Deutschland, der Schweiz und Österreich, die das Hauptquartier des englischen Elektronikherstellers Dyson im malerischen Städtchen Malmesbury im Südwesten Englands besucht hatten – war zunächst noch gescherzt worden.

Wie man sich am Abend in London in einem Pub mit gutem englischem Bier trösten könne, falls der Flug gestrichen werde. Oder die Arbeit in einen schönen Park verlegen müsse, wenn die Reise unfreiwillig verlängert werde. Da der Check-in jedoch problemlos funktioniert und das Boarding zehn Minuten später startet, werden diese Überlegungen schnell wieder verworfen. Wir würden vom Flugchaos wohl verschont bleiben.

Flug kurzfristig gestrichen

Als der Blick um knapp vor 19 Uhr ein letztes Mal auf die Anzeigetafel wandert, um das Abfluggate zu erfahren, leuchtet plötzlich die rote Anzeige für den Flug nach Wien auf: "cancelled". Der Flugausfall in letzter Minute ist auch bei anderen betroffenen Fluggästen, die sich schnell bei einem Informationsschalter sammeln, das große Thema.

In Wien ist das ganz große Kofferchaos bisher ausgeblieben. Durch die vielen Verschiebungen und Absagen kann es aber auch zu Problemen kommen.
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"Warum erfährt man das erst eine halbe Stunde vor Abflug direkt am Flughafen? Wir hätten uns die mühselige Anfahrt nach Heathrow sparen und schon etwas organisieren können", reagiert ein junges österreichisches Paar verärgert. Ein älterer britischer Geschäftsmann, der mit Kollegen aus New York am nächsten Morgen in Wien sein muss, will keine Zeit verlieren und schnell einen anderen Flug organisieren.

Sein wildes Gestikulieren mit hochrotem Kopf nützt aber nichts. Die Wien-Passagiere müssen aus dem Abfluggate zurück in die Ankunftshalle und dafür, mit Passkontrolle, de facto noch einmal in Großbritannien einreisen. Dass dies im Mutterland der organisierten Warteschlangen nicht besser gelöst ist, sorgt bei den meisten zunächst für Erheiterung. Spätestens in der Ankunftshalle ist aber niemandem mehr zum Lachen zumute.

Keine Umbuchung möglich

Da die AUA keine Repräsentanz in Heathrow hat, teilt eine Flughafenmitarbeiterin den Fluggästen mit, dass keine Umbuchung möglich sei. Man werde eine E-Mail mit den automatisch zugeteilten neuen Daten für den Flug nach Wien bekommen. Tatsächlich ist das bei einigen bereits der Fall. Neues Abflugdatum: 48 Stunden später, am Freitagabend, über Frankfurt. Hinsichtlich der notwendigen Unterkunft hat die Dame ebenfalls schlechte Nachrichten. Das Kontingent der Fluglinie für Hotels sei ausgeschöpft, man müsse sich selbst ein Hotel organisieren. Bei der AUA-Hotline gibt es kein Durchkommen.

Personalmangel an Flughäfen sorgt für lange Warteschlangen beim Check-in und bei der Sicherheitskontrolle.
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Während ein älteres Ehepaar aus Wien versucht, die englischen Informationen richtig zu interpretieren, haben die Ersten schon ihre Handys gezückt, um auf einer der Buchungsplattformen ein Zimmer zu suchen. Das Ergebnis, das die Booking.com-App ausspuckt, sorgt für ungläubiges Staunen, das schnell in Verzweiflung umschlägt. Für ganz London und Umgebung werden gerade einmal 36 freie Hotelzimmer angezeigt.

Ein Zimmer ab 400 Euro

Bis auf ein, zwei Ausnahmen beginnen die Preise bei unglaublichen 350 Pfund (400 Euro) pro Nacht und reichen bis zu 2000 Pfund (2306 Euro). Wegen der in Kürze stattfindenden Frauen-Fußball-EM und des Tennisturniers in Wimbledon gibt es kaum mehr Zimmer. Dass Austrian Airlines auch Unterkünfte um mehrere Hundert Pfund erstatten wird, will die Auskunftsperson am Flughafen nicht garantieren.

Auch Amsterdam ist wie die meisten anderen Städte vom Flugchaos betroffen.
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Mein Reisebegleiter und ich zögern dennoch nicht lange, da erste gerade noch verfügbare Zimmer bereits weg sind. Die Taxifahrt in die teure Unterkunft kostet 90 Pfund. Sie liegt außerhalb von London und ist öffentlich nicht erreichbar. Drei junge Studierende aus Wien sind nicht so privilegiert. Sie können solche Summen nicht auslegen und überlegen, im Flughafen auf dem Boden zu schlafen.

Drei Stunden Autofahrt

Da die E-Mail für den neuen Rückflug auf sich warten lässt, buchen wir bereits für Donnerstag einen neuen Flug mit Ryanair. Da dieser allerdings vom Flughafen Stansted, nordöstlich von London, abhebt, werden für die Fahrt dorthin noch einmal 150 Pfund anfallen. Aufgrund von Staus dauert die rund 100 Kilometer lange Anfahrt über drei Stunden. Zumindest die Angst, nun auch noch den neuen Flug zu verpassen, hat sich am Ende als unbegründet herausgestellt. Wie eingangs erwähnt, war der ja ebenfalls verspätet.

Als der Ryanair-Flieger schließlich Freitag um halb zwei Uhr früh in Schwechat aufsetzt, klatscht übrigens niemand mehr. Am Nachmittag kommt eine AUA-E-Mail zum offiziell vorgesehenen Ersatzflug von Heathrow am Freitagabend. Er wurde gestrichen. (Martin Stepanek, 3.7.2022)