Am Large Hadron Collider (LHC) am europäischen Kernforschungszentrum Cern gelang 2012 die Entdeckung des Higgs-Teilchens.
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Ganz zu Beginn stand das Projekt auf Messers Schneide. Am LHC, der kompliziertesten Maschine der Welt, gab es einen schweren Zwischenfall. Im unterirdischen Bereich, wo im 27 Kilometer langen Tunnel Protonen beschleunigt und zur Kollision gebracht werden sollten, traten explosionsartig sechs Tonnen Helium aus. Die Schäden warfen die Arbeiten um Jahre zurück. Das war 2008.

Das Team am Cern, dem traditionsreichen Zentrum für Elementarteilchenphysik, ging auf Nummer sicher und ließ die Anlage nach Behebung des Schadens mit verringerter Energie anlaufen. Dass bereits vier Jahre später die Entdeckung Des Higgs-Teilchens verlautbart werden konnte, war also alles andere als selbstverständlich.

Lücke in der Weltformel

Das neue Teilchen füllt eine Lücke im sogenannten Standardmodell der Elementarteilchenphysik, einer Theorie mit dem Anspruch einer Weltformel, die alle bekannte Materie und ihre Wechselwirkungen erklärt. Seine Entdeckung bescherte dem Namensgeber Peter Higgs gemeinsam mit seinem Kollegen François Englert bereits ein Jahr später den Nobelpreis und der Popkultur ein neues Feld für nerdige Insiderverweise, etwa beim Videospielguru Hideo Kojima, der in seinem letzten Werk Forschernamen und Fachbegriffe aus der Elementarteichenphysik zu einem wilden Potpourri mischte.

Die Entdeckung des Higgs stand von Anfang an ganz oben auf der Agenda des LHC. Es musste gefunden werden, andernfalls wäre die Theoretische Physik in ernsten Schwierigkeiten. "Ohne das Higgs-Feld passen die Theorien nicht zusammen", sagte der Teilchenphysiker und Nobelpreisträger Gerard 't Hooft noch 2010. "Da muss etwas sein." Auch für den LHC, die Abkürzung von "Large Hadron Collider", was sinngemäß für "Gerät zur Kollision schwerer Elementarteilchen steht", wurde das Higgs zur Überlebensfrage. Es sollte die enormen Investitionskosten rechtfertigen.

Der britische Physiker Peter Higgs ist Namensgeber für das Higgs-Teilchen. 2013 wurde er für seine Entdeckung gemeinsam mit François Englert mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet.
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Ein ungewöhnliches Teilchen und ein Schwergewicht

Im Formalismus des Standardmodells ist das Teilchen ein Exot. Es passt nicht in die vorhandenen Schemata, die in der Elementarteilchenphysik hohen Stellenwert haben – alles dreht sich dort um Symmetrien und ihre mathematische Formulierung, Teilchen treten in Gruppen auf und enthüllen eine tiefere Ordnung, die vielfach noch immer unverstanden ist. Das Higgs ist von allen bisherigen Teilchen unabhängig. Es sollte ein theoretisches Problem lösen: In den Gleichungen des Standardmodells sind nur masselose Teilchen vorgesehen. Versieht man sie mit Masse, bricht die Symmetrie der Gleichungen und damit das ganze Konstrukt zusammen.

Die Lösung: ein neues Feld, das den Teilchen Widerstand entgegensetzt und ihnen damit Masse verleiht – ohne die Symmetrie zu stören. Das letztendlich gefundene Teilchen ist ein Schwergewicht: etwa 125 Mal schwerer als ein Wasserstoffatom. Masse bedeutet Energie, weshalb es die enorme Leistungsfähigkeit des LHC brauchte, um es überhaupt erzeugen zu können. Nur wenn die kollidierenden Protonen im Beschleuniger schnell genug sind, können so schwere Teilchen entstehen.

"Langweiliges" Teilchen

Das Higgs hätte nur der Beginn einer Reihe aufregender Entdeckungen sein sollen. Weitere, noch völlig unbekannte Teilchen sollten mit der nie dagewesenen Leistungsfähigkeit des Beschleunigers entdeckt werden, insbesondere die sogenannten supersymmetrischen Teilchen, die als wesentliche Voraussetzung für die Stringtheorie gelten.

Doch große neue Entdeckungen blieben aus, das Higgs passte perfekt ins Bild ohne weitere Lücken zu enthüllen. "Langweilig" nannte das Fachmagazin "New Scientist" das neu entdeckte Teilchen. Es verhielt sich exakt so wie erwartet. Was einerseits ein großer Erfolg für die Theoretische Physik ist, ist andererseits ein Problem, weil viele in der Forschungsgemeinschaft auf Entdeckungen hoffen, die über das Standardmodell hinausgehen.

Ein Teilchen als Mikroskop – oder mehrere?

Nun soll das "langweilige" Teilchen noch genauer vermessen werden und doch einen Blick auf tiefer liegende Prozesse erlauben. "Das Higgs-Teilchen ist wie ein Mikroskop, das es uns ermöglicht, das Universum mit höchster Präzision zu erforschen", sagt CERN-Generaldirektorin Fabiola Gianotti. Und Gian Giudice, der Leiter der Abteilung für Theoretische Physik am CERN stellt in Abrede, dass die Zeit nach der Entdeckung des Higgs ereignisarm gewesen sei: "In den letzten zehn Jahren haben wir extrem viel gelernt. Die Teilchenphysik hat sich in dieser Zeit viel stärker verändert als in den 30 Jahren zuvor." Wichtiger als das "Wie" sei das "Warum". Und das zu verstehen, dabei wird das Higgs helfen. Tatsächlich sind in den Jahren nach der Entdeckung immer neue Ergebnisse veröffentlicht worden, die aber allesamt die Erwartungen des Standardmodells in Bezug auf das Higgs bestätigten.

Neben der Vermessung des bekannten Higgs-Teilchens verfolgt das Team am CERN eine weitere Idee. Es könne mehrere Higgs-Teilchen geben. Was nach "more of the same" klingen mag, hat seinen Ursprung in theoretischen Konzepten, die helfen sollen, Dunkle Materie zu verstehen oder Gravitation mit dem Standardmodell zu verbinden – die einzige fundamentale Kraft, die nicht Teil des Formalismus ist. Diesen Konzepten zufolge sollte es mindestens fünf verschiedene Higgs-Teilchen geben.

Wenn nun einen Tag nach dem Jubiläum der Entdeckung des Higgs der LHC mit noch einmal gesteigerter Genauigkeit seinen Betrieb wieder aufnimmt, geht die Jagd nach dem Higgs weiter – beziehungsweise nach seinen Partnern, mit denen es womöglich eine geordnete Gruppe bildet, die einen weiteren Blick in den Maschinenraum der Natur öffnet. (Reinhard Kleindl, 4.7.2022)