Der Seeweg spielt laut Bundeskriminalamt bei der Flucht von Ägypten nach Europa keine Rolle. Vielmehr kämen Migrantinnen und Migranten über den Land- oder den Luftweg.

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Wer zum ersten Mal nach Kairo kommt, der stellt sich die Stadt groß vor. Wer sie bei der Landung von Norden nach Süden überfliegt und die dicht an dicht gebauten Häuser dabei nicht und nicht aufhören sieht, der mag denken: "So groß hätte ich sie mir dann auch wieder nicht ausgemalt." Und wer sich vergegenwärtigt, dass Ägyptens Hauptstadt knapp zehn Millionen Einwohner hat, die Metropolregion mindestens 20 Millionen und in ganz Ägypten mehr als 100 Millionen Menschen leben, der könnte meinen: Das ist ein Problem für Österreich. Jedenfalls wenn es nach der österreichischen Bundesregierung geht – namentlich in Person von Innenminister Gerhard Karner und Außenminister Alexander Schallenberg (beide ÖVP).

Denn die vom Ukraine-Krieg ausgelöste Nahrungsmittelkrise in Ägypten könnte starke neue Migrationsströme nach Europa befeuern. Sie hat das Potenzial, das Land nachhaltig zu destabilisieren: Ägypten ist der weltweit führende Importeur von Weizen, 80 Prozent werden importiert, der Großteil davon kam bislang aus Russland und der Ukraine. Durch Russlands Seeblockade im Schwarzen Meer steht der Import derzeit aber still.

Sechs Millionen Einwanderer

Im Vorfeld ihres gemeinsamen Arbeitsbesuchs in Kairo, der von einer kleinen Delegation an Medienvertreterinnen und -vertretern begleitet wird – so auch vom STANDARD –, wurden die beiden Minister und ihre Büros nicht müde zu betonen, dass Ägypten neben der Türkei bereits jetzt einer der großen Umschlagplätze für Migrationsströme nach Europa ist. In die Türkei, konkret in die Hauptstadt Ankara, reiste man am Sonntagabend weiter und wird dort weitere Arbeitstreffen zum Thema absolvieren. So etwa mit dem Innen- und dem Außenminister der Türkei.

In Ankara sitzt mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan auch das Objekt jahrelanger Kalte-Schulter-Politik durch Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Erdoğan wurde aufgrund seines Einflusses auf die türkische Diaspora in Österreich und seiner Versuche, die EU mit dem Steuern von Migrationsbewegungen zu erpressen, mit einer politischen Eiszeit aus Wien belegt. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gilt Erdoğan aufgrund des geostrategischen Gewichts der Türkei aber wieder als gefragter Partner der heimischen Politik.

Ägypten jedenfalls ist "sowohl ein Aufnahme-, Durchzugs- als auch Ursprungsland von Flüchtlingen", heißt es in einem Papier des Außenministeriums. Konkret: Neben den 100 Millionen Ägypterinnen und Ägyptern, unter denen es gerade jüngere verstärkt Richtung Europa zieht, weilen laut UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration im Land aktuell auch rund sechs Millionen Migrantinnen und Migranten vor allem aus ostafrikanischen Ländern wie Somalia, Eritrea, Äthiopien, dem Sudan und dem Südsudan, die das Land am Nil nicht zwingend als ihre finale Destination sehen. Alles zusammen genommen ist das also eine durchaus erhebliche Zahl an Menschen, die sich potenziell auf den Weg Richtung Europa machen könnten.

Massive Überbevölkerung

Ägypten liegt bei den Asylanträgen in Österreich inzwischen unter den Top-Ten-Ländern. Bei den Anträgen von Jänner bis Mai 2022 gab es zuletzt eine Steigerung um rund 200 Prozent. Eines der zentralen Arbeitstreffen der österreichischen Delegation, zu der sich auch Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität und des Menschenhandels im Bundeskriminalamt, gesellt hat, ist die Zusammenkunft mit Naela Gabr, der Vorsitzenden des ägyptischen Komitees gegen illegale Migration und Menschenhandel.

Migration im größeren Stil sei "ein vergleichsweise neues Thema für Ägypten", sagt Gabr. Inzwischen wirke sich die zunehmende Überbevölkerung im Land stark aus. Tatsächlich hat sich Ägyptens Bevölkerung innerhalb der vergangenen 30 Jahre verdoppelt. Betrug die Einwohnerzahl 1990 noch rund 60 Millionen, lag sie im Jahr 2000 schon bei 69, 2010 bei 83 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. 2020 waren es schließlich 102 Millionen.

Ihre Organisation arbeite sowohl mit Polizeibehörden als auch mit Menschenrechtsorganisationen zusammen, erzählt Gabr. Denn das Schlepperwesen sei untrennbar mit Menschenrechtsverletzungen verknüpft. Die Wege nach Europa führen sowohl für Migrantinnen und Migranten als auch für Schlepper und deren Kunden in den meisten Fällen über die "klassische" Balkanroute nach Europa.

Dies entweder auf dem Landweg über Jordanien und Syrien in die Türkei. Oder aber auf dem Luftweg von Kairo nach Istanbul, wie Tatzgern dem STANDARD erklärt. "Manche versuchen es auch Richtung Osten über Libyen. Die gehen aber nicht direkt nach Libyen, sondern zuerst aus Ägypten in eines der südlicheren afrikanischen Länder." Die Seeroute über das Mittelmeer spielt wegen der großen Distanz nach Europa aus Ägypten keine Rolle.

Kreative Wege nach Europa

Einen etwas kreativeren Weg, um nach Europa zu gelangen, schildert Gabr auch: Kleinere Sportvereine würden Athletinnen und Athleten zu Wettkämpfen nach Europa schicken. "Ein Teil kommt danach wieder zurück. Der andere nicht." Ähnliche Versuche gebe es mit Studierendengruppen. Menschenhändler und Schlepper würden sich mit ihrem Gewerbe in Ägypten recht privilegierte Existenzen aufbauen, sagt Gabr. Das Phänomen der illegalen Migration und Schlepperei wolle man nicht zuletzt mit Job-Initiativen in den Städten bekämpfen.

Neben den "passiven" Interessen des österreichischen Innen- und Außenministeriums in der Region – Migrantinnen und Migranten möglichst vom Zug in Richtung Europa abzuhalten – hat die Republik hier auch aktive: Österreich pflegt traditionell gute Beziehungen zu Ägypten, österreichische Firmen exportieren und investieren in beträchtlichem Ausmaß. Exportiert werden vor allem Maschinen und mechanische Geräte, die Voest unterschrieb zudem einen Vertrag für ein großes Schienenprojekt.

Schallenberg sagt Hilfe zu

"Ägypten ist für uns Österreicher ein sehr wichtiger Partner, es ist ein Stabilitätsanker in der Region", sagte Schallenberg am Sonntagnachmittag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem ägyptischen Amtskollegen Samih Schukri, in der die guten Beziehungen der beiden Länder betont wurden. Die Kooperation von Polizei- und Sicherheitsbehörden spiele dabei eine Rolle. Aber nicht nur. Österreich werde im Rahmen der EU auch zur Nahrungsmittelsicherheit in Ägypten beitragen, betonte Schallenberg.