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Eine Verschnaufpause gibt es diesen Sommer nicht: Die Zahl der Corona-Infektionen ist selbst in der warmen Jahreszeit hoch geblieben und dürfte in den kommenden Wochen noch steigen. Schon wird der Ruf nach neuen Maßnahmen in Österreich laut. Aber helfen uns diese überhaupt, verschwinden wird das Virus ja nicht mehr?

Was ist also die richtige Strategie in der Pandemie: Rund um diese Frage wurde beim Videotalk "STANDARD mitreden" diskutiert. Neben der soeben ausgeschiedenen Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz war der deutsche Epidemiologe Klaus Stöhr und sein österreichischer Kollege Gerald Gartlehner geladen sowie die Politikwissenschafterin Sylvia Kritzinger vom Austrian Corona Panel Project. Ein Auszug aus dem Streitgespräch.

STANDARD: Frau Pilz, wie beurteilen Sie die aktuelle Strategie der österreichischen Regierung in der Pandemie? Maßnahmen gibt es ja kaum noch.

Pilz: Was ich kritisiere, ist, dass man einen nicht nachvollziehbaren Kurs fährt. Die Debatte kreist immer um dieselbe Frage: Sind die Spitäler überlastet? Sind die Intensivstationen voll? Und das greift meines Erachtens zu kurz. Denn wir wissen ja: Wir müssen mit dem Virus leben, aber damit leben heißt nicht, das einfach ungebremst durchrauschen zu lassen. Und das ist jetzt leider der Kurs, der in Österreich gefahren wird, und das halte ich für unethisch. Dabei geht es nicht nur um die Maskenfrage, sondern auch darum, Gruppen zu schützen, die sich nicht schützen können, etwa Kinder in Schulen und Kindergarten. Trotz eines hoch ansteckenden Virus müssen wir schauen, dass die Infektionszahlen niedrig bleiben. An jene, die sagen: "Lasst es durchrauschen", die suggerieren, wir hätten es dann hinter uns: Wir haben es aber nicht hinter uns, denn man kann sich neuerlich infizieren. Und es gibt auch Fachleute, die sagen, jede neue Infektion baut auf einem geschwächten Immunsystem auf und schwächt weiter.

Stöhr: Ja, ich stimme Ihnen völlig zu, Sie beschreiben den aktuellen Trend sehr korrekt: Wir haben akzeptiert, dass wir das Virus nicht aufhalten können, es gibt Re-Infektionen und neue Wellen. Der Impfstoff wirkt nicht vollständig. Es gibt Long-Covid. Also, das sind alles Dinge, die bei Corona existieren. Das muss man so akzeptieren. Aber helfen Sie mir mal zu verstehen: Was ist bei Corona anders als bei Influenza oder zum Beispiel beim RSV-Virus?

Pilz: Allein der Umstand, dass wir es mit einem Virus zu tun haben, das die Organe schädigen kann, das Langzeitfolgen hat, von denen wir noch nicht wissen, wie schlimm sie sein werden. Und dass wir, wenn wir beispielsweise an die Kinder denken und nicht wissen, ob viele oder wenige von ihnen von Long-Covid und Organschädigungen betroffen sein werden, wir eben alles zu tun haben, um sie zu schützen. Man soll uns nicht in fünf Jahren, in zehn Jahren, in 20 Jahren vorwerfen, wir wurden gewarnt oder haben es geahnt, haben aber unsere Kinder dennoch nicht geschützt, weil wir den Tourismus schützen mussten.

Stöhr: Was Sie hier sagen ist auch richtig, es gibt Long-Covid bei Kindern. Aber das unterscheidet sich, was den Umfang betrifft, nicht von Long-Influenza. Da gibt es genügend Daten aus den USA, wo 1,5 Millionen Gesundheitsakten studiert wurden und man gefunden hat, dass vor 2019 prozentual genauso viele Personen Long-Influenza hatten, auch Kinder, Jugendliche, Schwangere, wie Menschen jetzt Long-Covid haben. Ich frage mich, warum wir bei Corona so viel mehr an Maßnahmen akzeptieren, die wir bei anderen Infektionserkrankungen nicht mehr als verhältnismäßig ansehen würden. Das ist der Punkt, der mich dann doch fragen lässt, wie es geschehen konnte, dass in Deutschland 600 Milliarden Euro ausgegeben wurden in der Pandemiebekämpfung, während ansonsten jedes Jahr 300 Milliarden ausgegeben werden für die Bekämpfung aller anderen Erkrankungen. Wo ist da die Verhältnismäßigkeit?

STANDARD: Im vergangenen Jahr waren zu Spitzenzeiten mehr als 600 Menschen auf Intensivstationen wegen Corona in Österreich, die Spitäler liefen voll. Diese fehlende Verhältnismäßigkeit: Ist die Ihrer Ansicht nach erst durch die mildere Omikron-Variante gekommen, oder war die schon vorher da?

Stöhr: Solange die Pandemie angedauert hat, waren die Folgen dramatisch. Auch bei der Anzahl der Todesfälle, besonders in den vulnerablen Gruppen. Aber jetzt sind wir eben nicht mehr in der Pandemie, diese kommt langsam zum Ende. Wir haben also leider nichts anderes als Antwort auf das Virus als Impfstoffe, gute Medikamente und ein stabiles Gesundheitswesen. Vielleicht hat einer von Ihnen noch eine Idee, was jetzt noch dazukommen könnte, um der Person, die jetzt dreimal geimpft ist, noch eine bessere Chance zu geben, die erste Infektion, die einfach nicht zu verhindern ist, noch besser durchzumachen? Und jetzt muss man nach vorne schauen und fragen: Wie passen wir uns jetzt der neuen Situation an? Wie können wir tatsächlich mit dem Virus verhältnismäßig umgehen?

STANDARD: Und?

Stöhr: Von der epidemiologischen und rechtlichen Seite her müssen Maßnahmen verhältnismäßig und notwendig sein. Und notwendig sind immer Maßnahmen, wenn das Allgemeinwohl gefährdet ist. Wenn nun in Österreich, so wie derzeit, um die 50 Patienten auf der Intensivstation wegen Corona liegen, ist dadurch das Allgemeinwohl nicht gefährdet. Die Infektion des Einzelnen ist möglich, die schwere Erkrankung des Einzelnen ist möglich, und der Einzelne kann sich für die Impfung entscheiden oder eben nicht. Das ist dann eine Eigenverantwortung. Und mit dem Hintergrund, dass wir akzeptieren müssen, dass wir Infektionen nicht unendlich hinauszögern können, ist es jetzt im Sommer eigentlich vernünftiger, die zu schützen, die vulnerabel sind, und sich auf Herbst vorzubereiten, wenn eine heftige Welle kommen wird, aber in diesem Sommer das ganz entspannt anzugehen.

STANDARD: Herr Gartlehner. Wie entspannt sind Sie?

Gartlehner: Wir müssen der Realität ins Auge blicken. Wir können mit all den nicht pharmakologischen Maßnahmen die Infektionszahlen abflachen, aber wir verschieben sie eigentlich immer nur ein bisschen nach hinten. Das heißt, irgendwann werden diese Infektionen stattfinden. Manchmal ist das Abflachen notwendig, weil die Intensivstationen überlastet sind. Aber ich denke, in Österreich geht die Diskussion ein bisschen am Kern vorbei derzeit.

STANDARD: Was meinen Sie?

Gartlehner: Ich glaube, Omikron hat viel verändert, und der Fokus sollte nun auf vulnerable Gruppen mit hohem Risiko gelegt werden. Wir sollten dagegen weniger versuchen, jetzt mit der Gießkanne nichtpharmakologische Maßnahmen über alle zu verteilen, sondern gezielt jene ansprechen, denen eine vierte Impfung derzeit wirklich viel helfen würde. Das heißt, wir würden Kampagnen brauchen, damit sich die über 65-Jährigen wirklich impfen lassen. Wir würden Kampagnen brauchen, damit sich ältere und vulnerable Personen wieder regelmäßig testen lassen. Wir haben jetzt relativ gute antivirale Medikamente, aber die müssen früh eingesetzt werden, und das könnte die Spitäler entlasten. Nur dahingehend ist leider derzeit überhaupt nichts zu sehen bei uns. Wenn Sie an die Impfkampagne bei uns denken, lautet da ein Slogan: "Damit können Sie schmusen beim ersten Date." Das geht an der Zielgruppe natürlich völlig vorbei.

Gesundheitsminister Rauch will die Corona-Maßnahmen in Österreich vorerst nicht verschärfen.
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STANDARD: Sind überhaupt noch Maßnahmen, etwa die Maske, notwendig? Sie haben vorgeschlagen, die generelle Quarantänepflicht für Menschen, die positiv getestet, aber symptomfrei sind, aufzuheben.

Gartlehner: Ich habe vorgeschlagen, dass wir darüber diskutieren sollen. Auch hier müssen wir der Realität ins Auge sehen: Der Großteil der asymptomatisch Infizierten bewegt sich ohnehin völlig frei. Entweder, weil sie von der Infektion nichts wissen, oder, weil sie es wissen, aber nicht in die Quarantäne-Maschinerie reinwollen. Und dann gibt es halt die, die fünf Tage abgesondert werden, obwohl sie asymptomatisch sind. Und das ist einfach etwas, das man diskutieren sollte. Insgesamt wird es jetzt nicht sehr viel am Pandemieverlauf ändern, wenn die Quarantäne abgeschafft wird. Aber es hat natürlich auch gesellschaftliche Auswirkungen. Es werden deswegen Kindergärten gesperrt, es können öffentliche Verkehrsmittel nicht fahren. Diese strengen Quarantäne-Verordnungen haben schon auch wirkliche Konsequenzen.

STANDARD: Drei spannende Inputs. Frau Kritzinger?

Kritzinger: Ich würde das gern in Zusammenhang setzen mit den Daten, die wir im Rahmen des Austrian Corona Panel Projekt gesammelt haben. Die Mehrheit der Österreicher und Österreicherinnen sieht durchaus einen Unterschied zwischen Corona und Influenza. Corona wird als um einiges gefährlicher wahrgenommen. Die Mehrheit der Österreicher und Österreicherinnen hat auch durchaus eine differenzierten Blick darauf, wo man sich anstecken kann. Und interessant ist zu sehen, dass zum Beispiel öffentliche Verkehrsmittel oder aber auch Kindergärten und Schulen als jene Plätze gesehen werden, wo eben die Ansteckungsgefahr am größten ist. Und da kann man ein bisschen den Bogen spannen zu den Maßnahmen. Wir sehen natürlich eine absolute Ermüdung innerhalb der Bevölkerung, viele denken, dass die Maßnahmen der Regierung nicht besonders effektiv gewesen sind in der Pandemie. Und daher wünscht sich das eine Drittel der Bevölkerung strengere Maßnahmen und das andere Drittel weniger strenge Maßnahmen. Es ist auch sehr schwierig, dann eine gemeinsame Policy zu finden, weil irgendjemanden wird man damit immer nicht zufriedenstellen.

STANDARD: Wofür würden Sie plädieren?

Kritzinger: Wenn man das vielleicht alles zusammennimmt, dann kann man sagen, von all den Maßnahmen war die Maskenpflicht diejenige, die am wenigsten Schwierigkeiten verursacht hat. Also das war akzeptabel. Eine Maske gilt als etwas ziemlich Normales, fast so, wie man sich die Schuhe anzieht, wenn man aus dem Haus geht, nimmt man die Maske mit. Daher glaube ich, eine Maskenpflicht wäre eine relativ einfache Maßnahme, um hier dem Infektionsgeschehen entgegenzusteuern und auch die Bevölkerung noch mal mitnehmen zu können.

Sollen die Corona-Maßnahmen ein Comeback feiern?

STANDARD: Frau Pilz, Sie haben vorhin den Kopf geschüttelt, als Klaus Stöhr gesprochen hat.

Pilz: Na ja, offensichtlich weiß er mehr als ich, wenn er sagt, mit Omikron ist die Pandemie vorbei. Ich würde mich freuen, wenn Sie recht haben. Wir wissen es aber schlicht und einfach nicht. Wir wissen nicht, ob neue Varianten kommen, ob sie schlimmer sind, ob sie milder sind. Und diese Vermutung: milder, ganz mild und dann ganz egal – die muss sich nicht bewahrheiten. Es kann sein, dass wir im Herbst mit einem Virus konfrontiert sind, der uns ordentlich unter Druck setzt. Das Virus wird durch Aerosole verbreitet. Daher ist es, finde ich, wirklich fahrlässig, wenn man sagt, man braucht keine Maske mehr.

STANDARD: Also wofür plädieren Sie?

Pilz: Machen wir alles, was uns nicht so belastet. Masken in den Innenräumen, absolut. Dann die Luftreinigung in öffentlichen Gebäuden, wo Menschen nicht auskönnen, wie Spitäler, Gesundheitseinrichtungen, Ordinationen, Kindergärten und Schulen, inklusive CO2-Messung. Das kostet was, das ist klar. Aber das würde niemanden in seiner persönlichen Freiheit einschränken, die vielen Leuten gerade bei Corona so wichtig ist. Und dazu noch ein Testregime, das diesen Namen verdient.

STANDARD: Herr Stöhr, Frau Pilz plädiert für Maskenpflicht. Frau Kritzinger sagt, es ist ein relativ gelindes Mittel.

Stöhr: Masken haben einen großen Unterschied gemacht und wirken sehr gut. Aber meine Frage an Sie wäre eigentlich: Warum würde man diese Maßnahmen, die Sie gerade vorgeschlagen haben, Lüftung und Masken, aufrechterhalten? Die würden ja auch Sinn machen, die würden auch eine Wirkung haben, es würden sich weniger Menschen infizieren. Das setzt aber immer den Gedanken voraus, dass man sagt: Wir wollen alle Infektionen verhindern. Das heißt, dass wir ab jetzt und in der Zukunft so viel Infektionen wie möglich verhindern wollen. Was das negiert aus meinem Blickwinkel, ist, dass sich ungefähr 100 Atemwegserkrankungen nur dann verhindern lassen bei Erwachsenen, wenn sich die Kinder so früh wie möglich damit infizieren. Also bei allen Atemwegserkrankungen, ob ausgelöst durch Adenoviren, RSV-Viren, die Liste ist sehr lang, infiziert man sich zunächst als Kind und Jugendlicher. Wenn man das nicht macht, dann würde man sich, so wie wir uns jetzt alle, in einer Pandemie befinden, weil man dann erst als Erwachsener die Infektion durchmacht.

Der ganze Talk im Video.
DER STANDARD

Pilz: Meinen Sie das bei Masern auch, sollen wir die auch bei Kindern durchrauschen lassen?

Stöhr: Masern sind keine Atemwegserkrankung. Diese sind durch Impfstoffe sehr gut verhinderbar.

Pilz: Corona ist eine systemische Erkrankung und keine Atemwegserkrankung.

Stöhr: Für diese Atemwegserkrankungen gibt es außer der Influenza keinen Impfstoff. Um das noch mal zu sagen: Wer jetzt möchte, dass alle Infektionen verhindert werden, wird das für immer in der Zukunft machen müssen. Das hat man für sich und die Menschheit nicht akzeptiert in den letzten hunderten und tausenden von Jahren. Da hat man gesagt: Wir müssen damit leben, mit der Influenza, mit den anderen Viren, die ich genannt habe. Und wenn man das jetzt anders machen will, das geht. Da kann man genau das machen, was Sie beschrieben haben. Ich bin mir nicht sicher, ob das verhältnismäßig ist.

STANDARD: Okay, Herr Gartlehner. Wie sehen Sie das?

Gartlehner: Ich möchte auch nur noch einmal wiederholen: Masken sind wirklich ein wirksames Mittel, und Masken sind auch ein wirksames Mittel zum Selbstschutz. Das heißt, alle Personen, die ein erhöhtes Risiko haben, sollten unbedingt Masken tragen und sich selbst schützen.

Stöhr: Was ist mit Kindern, die hier nun erwähnt wurden?

Gartlehner: Der Großteil der Kinder hat kein großes Risiko, schwer an Corona zu erkranken. Es gibt jetzt Zahlen aus New York für Omikron. Diese zeigen, dass die Hospitalisierungen bei Geimpften extrem selten waren und bei Ungeimpften war die Zahl nur eine Spur höher, aber auch insgesamt relativ gering. Omikron bei Kindern verläuft relativ milde. (András Szigetvari, 5.7.2022)