Kennen Sie dieses Gefühl? Wenn Sie stinksauer sind, rund um Sie aber alle lachen und strahlen und jauchzen, während Sie am liebsten die ganze Welt bestrafen würden – aber bei der Suche nach dem oder der Schuldigen immer nur zu jenem Ergebnis kommen, das Ihnen jetzt am allerwenigsten passt: Das Problem liegt bei Ihnen selbst.

Weil Sie ja nicht ganz blöd sind: Die anderen, diese glücklichen und lachenden Menschen rund um Sie, haben nämlich recht. Die Welt, das Leben ist jetzt und hier gerade ziemlich leiwand. Und Sie dennoch nicht grundlos "gepisst". Nur: Außer Ihnen selbst kann halt wirklich niemand was dafür.

Foto: Tom Rottenberg

Wenn Sie dieses Gefühl kennen, können Sie sich in etwa – ansatzweise – vorstellen, wie ich vergangenen Samstag drauf war. Erst recht, nachdem mir Christina Neubauer (hier im Bild und für etliche Fotos dieser Diaschau verantwortlich, meist aber Co-Betreiberin des ziemlich tollen Bike-Blogs geradeaus.at) gesagt hatte, dass "du doch meine Laufräder hättest nehmen können, ich bin heute wegen des Equipments mit dem E-Bike unterwegs".

Als Christina im nächsten Satz vollkommen zu Recht feststellte, dass das, was mir die Stimmung versaute, "nicht nur dumm, sondern auch gefährlich" war, war der Ofen aus: Am liebsten hätte ich mein Rad in irgendeine Schlucht oder einen Graben im Bregenzerwald geworfen und wäre schwimmen gegangen. Danach hätte ich mich per Taxi, Uber oder Hubschrauber zurück nach Mellau shutteln lassen.

Foto: shutuplegs.de

Natürlich ging das nicht. Ganz abgesehen davon, dass es jetzt eh schon wurscht war: Hier, ab der zweiten Labe, waren die Geländeparts von "Into the Wold" zwar noch lange nicht vorbei. Aber um zur dritten Labe, dem "Werkraum Bregenzerwald" in Andelsbuch, und dann zurück nach Mellau zu kommen, konnte ich, nach einer kurzen letzten Fluch- und Rutschpartie durch einen nass-schlammig-steilen Hohlweg ohnehin die Straße nehmen.

Blöd, wenn eigentlich die Fahrt über eine ziemlich geile, nur über eine anspruchsvolle Steilpassage erreichbare Hängebrücke geplant war – aber die bessere, weil sicherere Option.

Foto: Christina Neubauer

Was ich falsch gemacht hatte? Ich hatte die falschen Reifen mit in den "Wold" genommen. Ja eh, auch weil ich grad keine anderen habe. Aber dass meine fast profillosen Beinahe-Slicks in meinen "üblichen" Gravel-Revieren zwischen Weinviertel und Seewinkel (hart, trocken und wellig) zwar unschlagbar, im Bregenzerwald (weich, nass und steil) dann jedoch unfahrbar sein würden, hätte ich mir eigentlich vorher denken können. Erst recht, weil es an den Tagen zuvor richtig gegossen hatte. Nur hatte ich halt nicht gedacht. Und jetzt, wo das Wetter phantastisch und alle gut drauf waren, die Wege aber immer noch ausgewaschen und rutschig waren, schlitterte, fluchte rutsche und schob ich: "Learning by Einfahring."

Foto: Tom Rottenberg

Ja eh, das legte sich wieder. Sehr rasch sogar. Schon als ich mich über die Bundesstraße von Hittisau nach Egg runterließ, verblies der Fahrtwind Wut und Ärger: Dass man sich am Gravelbike auf Asphalt (fast) so schnell bewegen kann wie am "reinen" Straßenrad, ist ja mit einer der Gründe, weshalb Graveln boomt: Im Gelände hält man mit Normalo-Mountainbike-Wanderer:innen fast immer gut mit – aber man erspart sich die MTB-Schwerfälligkeit auf der Straße.

"Das Beste aus beiden Welten" also. Oder die eierlegende Wollmilchsau unter den Fahrrädern. Aber vor allem: die "Raison d'Être" des Gravelfestivals "Into the Wold" im Bregenzerwald.

Foto: Christina Neubauer

Falls Ihnen Name, Ort und Setup vertraut vorkommen, ist das kein Zufall: Vor ziemlich genau einem Jahr ging es hier und hier auch schon um das sympathische Eben-nicht-Rennen, das Matthias Köb, Harald Triebnig und Philipp Altenberger da in der Heimat von Köb aus dem Boden gestampft hatten: Hatten die drei Tage unter dem Motto "Müde Beine, volle Bäuche, offene Herzen" mit ihrem Mix aus nichtkompetitivem Radfahren, regionaler Kulinarik, lokaler Kultur (und Yoga) im Vorjahr rund 60 Neugierige angelockt, mussten sie heuer bei 130 Anmeldungen dann "sold out" sagen – und ziemlich viele Leute, die zu lange gezögert hatten, auf eine Warteliste setzen. Wie sinnvoll das war, zeigte sich, als es aufgrund der aktuellen Covid-Welle dann doch etliche Kurzfristabsagen gab.

Foto: Christina Neubauer

Neu im Programm war dabei das, worum es hier ja meistens geht: Laufen. Dass das durchaus zum Gravel-Verständnis der Veranstalter passt, überrascht nicht. Schon im Vorjahr hatten die drei betont, dass sie Gravel nicht über das Gerät, sondern die Unterlage definierten: unbefestigtes Terrain. Ob man das mit Crossern (also klassischen Geländerennrädern), Gravel- oder Moutainbikes tat, ob die mit oder ohne E fuhren, war nicht einmal zweitrangig. Und trug zur entspannten Grundstimmung wohl ebenso viel bei wie das (beinahe) an das Augenmerk auf Qualität und Originalität der legendären Laben der Retro-Rundfahrt In Velo Veritas heranreichende Verpflegungskonzept unterwegs.

Foto: Tom Rottenberg

Traillaufen kann man überall, wo man auch wandern kann (obwohl es Grundbesitzer und Juristen gibt, die das anders sehen. Andere Geschichte). Dass Wandern im Bregenzerwald in jeder erdenklichen Intensität und jedem Schwierigkeitsgrad möglich ist, ist eine echte Binse. Aber auch ein Segen. Denn die ursprünglich geplante Route, hoch hinauf über die Baumgrenze, fiel dem Wetter zum Opfer: Auch wenn es dann, als wir losliefen, gerade und auch das nur (wie uns Radfahrerinnen später sagten) auf unserer Seite des weiten Talkessels weder schüttete noch gewitterte, wäre Laufen auf ausgesetzt-alpinen Pfaden einfach keine gute Idee gewesen.

Foto: Tom Rottenberg

Plan B, unser mitunter knöcheltiefes Gatschhüpfen und Schlammrodeln, war dann aber alles andere als schnell. Phasenweise auch etwas durchwachsen – aber in jedem Augenblick richtig fein. Nicht zuletzt aufgrund der Licht- und Stimmungswechsel, die der sich immer wieder fast mystisch zwischen die Bäume senkende Nebel da in den Wald zauberte.

Auch wenn die technischen Anforderungen der Strecke an die Läufer (wir waren ausschließlich Männer) es eher wenig empfehlenswert machten, den Blick allzu oft und allzu weit von der Strecke zu heben.

Foto: Tom Rottenberg

Der Umgebung dennoch immer den gebührenden Raum (und auch Zeit) zu geben, gehört aber mit zu dem, was Traillaufen so wunderschön macht: Natürlich könnte man einfach Vollgas, verbissen und ohne anzuhalten durch den Wald bolzen und zum Schluss laut "Erster!" schreien. Nur haben die, die den gleichen Lauf gemeinsam und genau andersrum anlegten, ziemlich sicher ziemlich viel mehr erlebt, als es die nüchtern in Zahlen und Grafiken gefassten Werte auf Strava und Co je erzählen können.

Foto: Tom Rottenberg

Wie wichtig das den "Wold"-Macher:innen ist, wie sehr das aber auch beim Publikum ankommt, zeigte sich kurz nach dem Freitagvormittagslauf bei der Themenrundfahrt "Bregenzerwälder Architektur": Obwohl es da in Strömen regnete, waren nicht nur alle Angemeldeten gekommen, sondern sogar noch ein paar Zaungäste.

Und obwohl weder das Wetter wirklich besser wurde noch die Tourguides auch nur im Entferntesten daran dachten, die Runde abzukürzen, blieben alle bis zum Schluss dabei, stellten Zwischenfragen ...

Foto: Tom Rottenberg

… kämpften sich über auch bei trockenem Wetter alles andere als Lockere-Spazierfahrt-Steigungen, warfen sich mit Todesverachtung dann in richtig schnelle Serpentinenabfahrten – und strahlten verschwörerisch-fröhlich um die Wette.

Kein Wunder: Bei schönem Wetter kann das schließlich jede und jeder. Waschelnass in die Geheimnisse der wäldlerischen Raum- und Regionalplanung eingeweiht zu werden mag durchaus ein bisserl "Dings" wirken. Und es vermutlich auch sein. Aber: Na und?

Foto: Tom Rottenberg

Obwohl die Anforderungen der großen Samstags-Wold-Ausfahrt (angeboten waren drei unterschiedlich lange und anspruchsvolle Runden) den "Bei schönem Wetter…"-Sager dann zumindest relativierten.

Weil da trotz Kaiserwetters doch etliche Teilnehmer:innen an ihre fahrerischen und konditionellen Grenzen stießen – und das nicht nur wegen der individuellen Ausrüstung: Die echten Unterschiede zwischen Graveln und Moutainbiken offenbaren sich meist dann, wenn das Terrain richtig "blockig" wird – und Lenker, Federung, aber auch Handling eine immer größere Rolle zu spielen beginnen.

Foto: Wheely ©www.intothewold.at

Natürlich fährt eine sehr gute Gravelbikerin auch noch dort, wo die meisten halbwegs guten Mountainbiker längst schieben (und vice versa). Aber wenn 80 Prozent der Graveler (und hier fuhren keine Anfänger) absteigen, die Hälfte der MTBs aber noch fährt, dann sagt das schon auch etwas aus – und derartige Passagen gab es auf allen drei Routen.

Das hat aber auch etwas Gutes: Die eigenen Grenzen aufgezeigt zu bekommen, zu erkennen, wo es Defizite, etwas zu lernen gibt, schadet nie. Ganz im Gegenteil. Es schützt und bewahrt vor Überheblichkeit und Arroganz: Was im urbanen Alltag lediglich unsympathisch macht, kann im Gelände sehr rasch sehr böse enden.

Foto: Christina Neubauer

Aber dieses "Draußen" ist auch auf andere Arten ein guter Ort, sich selbst und die Mitmenschen wieder einmal ein bisserl besser kennenzulernen.

Auch wenn es um Genderklischees geht. Dass bei diesem Event der Frauenanteil "schon bei der Anmeldung bei über 40 Prozent lag, tatsächlich aber wohl bei 50 Prozent, weil das bei Gruppenanmeldungen oft nicht angegeben wurde", (Matthias Köb) war auffällig. Auch dass hier kein einziges Mal – nicht einmal, wenn die Jungs untereinander plauderten – Sätze aus dem nett gemeinten, tatsächlich aber marginalisierenden "Für eine Frau ganz/echt gut"-Ansagen-Universum kamen: Sowas nicht zu hören tut gut. Ja, auch Männern.

Foto: Tom Rottenberg

Trotzdem war das über Generationen einstudierte Buben-Mädchen-Spiel dann manchmal doch nicht zu übersehen: Reifenpannen gehören bei so einem Event dazu. Dass man einander dann gegenseitig hilft, auch. Auch dass man Hilfe annimmt – geschlechtsunabhängig.

"Spaßig" wird es aber, wenn eine Frau einen Patschen hat, sich die Männer dann fast schon darum streiten, helfen zu dürfen – und die Besitzerin des platten Reifens untätig, aber immer wieder laut lachend daneben steht: "Selbstverständlich kann ich selbst Reifen wechseln. Aber wenn die Jungs sich sooooo drum reißen …"

Foto: Tom Rottenberg

Und dann wäre da noch Emil.

Emil ist vier Monate alt: Seine aus Köln stammenden Eltern waren im Vorjahr bei der Premiere mit dabei gewesen – und ließen es sich nicht nehmen, heuer mit dem Kinderanhänger hier mitzufahren.

Emil krähte und lachte, während es über Stock und Stein ging – und schien die teils wirklich wilden Ritte zu genießen.

(Keine Angst: Die "harten" Sachen, etwa die seitlich in steile Waldhänge abfallenden Schlammpassagen, ließen die Eltern eh aus.)

Foto: Tom Rottenberg

Viel wichtiger ist aber die Begleitgeschichte: Emil ist das erste "Into the Wold"-Baby. Ja, lachten seine Eltern, das gehe sich genau aus.

Und das, sagten die Veranstalter, sei für sie allemal Ansporn, das Gravelfest weiterzuführen – und weiter wachsen zu lassen.

Schließlich soll Emil in ein paar Jahren ja nicht nur das Radfahren per se, sondern auch alles andere, was wirklich zählt, lieben lernen: also die Schönheit der Welt, den Respekt vor anderen, die Freude am Leben und den Wert des Glücks zu erkennen und wertzuschätzen nämlich.

Das geht natürlich überall – aber im "Wold" besonders gut.

Sogar in jenen Momenten, in denen man das eigene Fahrrad am liebsten in eine Schlucht werfen würde. (Tom Rottenberg, 5.7.2022)

Mehr Bilder gibt es auf Tom Rottenbergs Instagram- und Facebook-Seite.

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Teilnahme und Aufenthalt waren eine Einladung von "Into the Wold" und dem Architektur-Apartmenthotel "Tempel 74".


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Foto: Tom Rottenberg