Goldene Jacke über goldenem Herzen: Jochen Distelmeyer veröffentlicht mit "Gefühlte Wahrheiten" ein Album zum Menschheitsthema Numero uno, der Liebe.

Foto: Sven Sindt

Der Titel ist die einzige Zweideutigkeit, die er sich leistet. Gefühlte Wahrheiten nennt Jochen Distelmeyer sein neues Album. Ein Modebegriff, der sich in den sogenannten sozialen Netzwerken als Vorstufe der Lüge etabliert hat. Als halluziniertes Faktum kleiner Ich-Maschinen, die vom Behauptungsmodus nie eine Stufe höher schalten, sich nicht auf die Argumentationsebene wagen, denn dort lauert der Reality-Check, das Glatteis der gefühlten Wahrheiten.

Wenn Jochen Distelmeyer so einen Begriff wählt und zugleich über das Leben im Netz den Befund abgibt, "da ist kein Glück in den Maschinen", legt das den Verdacht nahe, er will zumindest diesem einen Gefühl die Wahrhaftigkeit nicht nehmen lassen: der Liebe.

Der widmet sich der deutsche Musiker und Songwriter schon lange und intensiv. Bereits mit seiner Band Blumfeld hat er manifeste Titel wie Weil es Liebe ist geschrieben und Wellen der Liebe besungen. Mit der 1990 gegründeten und 2007 auf Eis gelegten deutschen Gruppe hat er den Ruf gewonnen, einer der besten Songwriter des deutschsprachigen Raums zu sein.

Mutwilliger Zufall

Er destillierte aus einer Vorliebe für US-Bands wie den Wipers und seiner Positionierung als kritischer Geist und Lover einen eigenen Stil mit beträchtlich Verve und schuf eine Pop-Poesie, deren politische Verortung vom damals gerade wieder vereinten Deutschland genauso geprägt war wie von seiner Sehnsucht nach Sex, Liebe und Verständnis.

Jochen Distelmeyer

Über die Jahre und Alben verlagerte sich seine Schwerpunktsetzung deutlich in Richtung Liebe, begleitet von einem Schatten, den die Realität der Welt auf den Musiker wirft und die seiner Kunst jene Verzweiflung einschreibt, die immer wieder als fatalistischer Grundton aufblitzt – einmal mehr, einmal weniger. Auf dem Weg dahin entsagte er der Ironie, entfernte diese von seiner Zunge, um dort Platz für sein Herz zu schaffen. Dass es auf diese Art näher zu seinem Hirn gerutscht ist, muss eine Art mutwilliger Zufall sein.

Country und Soul

Distelmeyers Lieder sind deshalb nicht schlechter geworden, wiewohl er auf dem Weg manche Fans verloren hat, die mit Abstechern in den Naturalismus und seiner Offenheit nichts anzufangen wissen. Er nennt das "Angst vor Emotionalität und Körperlichkeit".

Jochen Distelmeyer

Nach dem Ende von Blumfeld veröffentlichte er das Album Heavy (2009) sowie 2016 eine Sammlung mit Coverversionen; ein missglückter Roman ist ihm auch ausgekommen. Dessen Anlehnung an die griechische Mythologie taucht nun in Gefühlte Wahrheiten ebenso auf wie eine Fortschreibung des Coveralbums, die sich in Abstechern in Country-Musik und Soul niederschlagen. Wobei Distelmeyer nicht vorgibt, ein Al Green oder Kris Kristofferson zu sein, doch deren Text- und Interpretationskünste haben merklich Eindruck gemacht.

Und zumindest das auf Englisch verfasste und vorgetragene The Reason bietet ihm keinen Anlass, Angst vor Teer und Federn haben zu müssen. In den anderen beiden Country-Songs verweist er bewusst auf Hank Williams und Willie Nelson, was ihrer Originalität zwangsweise etwas abträglich ist. Doch seit Nena wissen wir: Liebe wird aus Mut gemacht, und den kann man ihm nicht absprechen.

Jochen Distelmeyer - Topic

Vom gitarrengetriebenen Frühwerk hat er sich schon länger verabschiedet. Zwar versteckt sich irgendwo auf dem Album ein Gitarrensolo, ansonsten spielt er eine beseelte Popmusik, die aber zu kopflastig ist, um im Mainstream zu reüssieren. Vielleicht muss man dem 54-Jährigen altersbedingt Erwachsenenpop nachsagen.

Verlieren und finden

Das klingt zwar bieder bis abwertend. Doch angesichts der vielerorts herrschenden Infantilität im Pop ist es eher eine Auszeichnung, eine Musik für denkende Menschen zu machen, die sich die Zeit nehmen, einmal 45 Minuten nicht aufs Smartphone zu schielen, sondern dem Vortrag eines ewig Hadernden und Suchenden zu lauschen. Ihm in ein Labyrinth aus Angst, Sehnsucht und Hoffnung zu folgen, um sich dort gleichermaßen zu verlieren und zu finden.

"Komm, halt dich an mir fest", singt er in der Ballade Nur der Mond. Das Angebot steht also, nur Mut. Und da kommt dann auch das erwähnte Gitarrensolo, mit dem Jochen Distelmeyer einsam den Mond anheult. Ohne Angst, sein Herz auszuschütten, wieder einmal bereit, alles zu geben. (Karl Fluch, 5.7.2022)