In Nukus patrouillieren seit den verheerenden Protesten vom Wochenende etliche zusätzliche Sicherheitskräfte.

Foto: Reuters

Die Straßen von Nukus sind am Montag angespannt, aber ruhig, beschreibt es eine der wenigen Journalistinnen, die sich am Montag noch frei in der Stadt aufhalten. Es ist der Beginn einer neuen Woche in der Regionalhauptstadt des zwischen Kasachstan und Turkmenistan gelegenen Karakalpakistan – nach den heftigsten Protesten, die es in Usbekistan seit Jahren gegeben hat. Die Spitäler sollen übervoll sein. Und vor dem lokalen Gefängnis warten hunderte Menschen, um zu erfahren, ob ihre Verwandten denn vielleicht dort zu finden sind.

Schon die offizielle Bilanz ist verheerend: 18 Menschen seien gestorben und über 200 verletzt, gab der usbekische Präsiden Schawkat Mirsijojew am Montag bekannt. Doch die Opferzahlen dürften viel höher sein. So hat der regionale Gesundheitsminister selbst noch am Sonntag von "Tausenden" gesprochen, die in den Krankhäusern der Region liegen würden.

Auch am Montag ist noch wenig bekannt darüber, was eigentlich seit Freitag in Nukus passiert ist. Am Samstag wurde der Ausnahmezustand verhängt, das Internet ist nun blockiert. Die Journalistin, die Angehörige vor dem Gefängnis in Nukus interviewen wollte, wurde ebenfalls kurzzeitig verhaftet.

Autoritäres Land

Usbekistan, das Land in Zentralasien, gilt grundsätzlich als streng kontrolliert. Unangemeldete Demos sind in der ehemaligen Sowjetrepublik verboten. Nur selten gehen die Menschen dort trotzdem auf die Straßen, etwa 2016, zum Amtsantritt von Mirsijojew, nachdem sein Langzeitvorgänger verstorben war.

Das Land ist etwas größer als Deutschland, ein Drittel der Landesfläche macht die semiautonome Region Karakalpakistan aus. Zumindest auf dem Papier genießt die dünn besiedelte Gegend Autonomie von Taschkent. So ist es in der usbekischen Verfassung verankert – zumindest bisher.

Abspaltungsrechte streichen

Denn in einem überraschenden Schritt wollte der Präsident ebenjene Rechte streichen. Artikel 70–75 der usbekischen Verfassung sichern Karakalpakistan unter anderem zu, "souverän" zu sein. Und es ist darin festgeschrieben, dass die Region jederzeit eine Abstimmung darüber abhalten dürfe, sich von Usbekistan abzuspalten. Diese Sonderrechte gehen wiederum auf die spezielle Geschichte des Landes zurück. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entschloss sich die Region, sich Usbekistan anzuschließen, und zwar für mindestens 20 Jahre. Danach dürfte die Region ein Referendum über ihren Status abhalten.

In dem neuen Verfassungsentwurf wurde dieses Recht aber gestrichen; auch das Wort souverän war nicht mehr zu finden. Mit dem Schritt haben sich die Machthaber aber offensichtlich verschätzt.

Hunderttausende protestieren online

Nach Veröffentlichung des Entwurfs Anfang vergangener Woche schlossen sich innerhalb weniger Stunden hunderttausende Menschen in sozialen Medien diversen Gruppen an, die gegen die Änderung eintraten. Behörden ließen die Gruppen schließen und die Internetverbindungen in der Region drosseln. Mindestens zwei Journalistinnen, die per Video dazu aufriefen, sich von Usbekistan abzuspalten, wurden verhaftet.

Am Freitag versammelten sich schließlich tausende Menschen in Nukus, um gegen den Schritt zu protestieren. Die Menge hätte den Regierungssitz stürmen wollen, verteidigt die Zentralregierung ihr brutales Eingreifen. Noch am Samstag reiste der Präsident nach Nukus und nahm den Entwurf zurück.

Rechte ohne reale Auswirkungen

Warum sich der Präsident überhaupt für den Schritt entschieden hatte, irritiert Beobachter. Die Rechte seien vielleicht am Papier außergewöhnlich, sagt der Zentralasien-Experte Frank Maracchione zum STANDARD, aber sie hätten kaum reale Auswirkungen. Das sei wohl mit ein Grund dafür, warum der Präsident den Schritt so schnell auch wieder zurücknahm.

Maracchione ortet aber noch viel weitreichendere Gründe für die Ausschreitungen. Die Verfassungsänderung sei der ausschlaggebende Funke gewesen, aber darunter habe sich lange schon Unmut über Missstände aufgebaut. Die Menschen in der Region stünden unter enormem wirtschaftlichen und sozialen Druck. Die sukzessive Austrocknung des Aralsees habe die lokale Ökonomie in der Region schwer getroffen: Die traditionelle Fischerei sei dahin, Tuberkulose grassiere. Karakalpakistan sei so zu einer der ärmsten Regionen des Landes geworden und abhängig vom Zentrum.

Ukraine-Krieg macht nervös

Der Krieg in der Ukraine hat außerdem zur Nervosität in der Region beigetragen. So sahen es die Machthaber vielleicht an der Zeit, den ungewöhnlichen Status von Karakalpakistan endlich loszuwerden. Bereits seit der Krimkrise 2014 hätten sich Abspaltungsbewegungen in Usbekistan verstärkt, schreibt Radio Free Europe.

Und viele sehen sich nun an Kasachstan erinnert, wo Anfang des Jahres bei Massenprotesten etliche Menschen starben. Die Rhetorik der Machthaber sei ähnlich, sagt Maracchione: Da wie dort werden "externe Kräfte" für Missstände in der Bevölkerung verantwortlich gemacht.

Nur langsam dringen trotz Internetblockade Berichte über das verheerende Wochenende in Nukus durch. Die Aufarbeitung wird noch länger dauern. Der Ausnahmezustand gilt einstweilen bis Anfang August. (Anna Sawerthal, 4.7.2022)