Sajid Javid (links), Boris Johnson und Rishi Sunak im New Queen Elizabeth II Hospital, 6. April.

Foto: APA/AFP/POOL/FRANK AUGSTEIN

Rishi Sunak vor der Downing Street 10.

Foto: REUTERS/John Sibley

Auch Sajid Javid hat das Vertrauen in Boris Johnson verloren.

Foto: REUTERS/Toby Melville

Kurzzeit-Vize-Fraktionsgeschäftsführer (Deputy Chief Whip) Christopher Pincher.

Foto: AP/Aaron Chown

Der bisherige Bildungsminister Nadhim Zahawi soll Rishi Sunak ablösen.

Foto: REUTERS/Henry Nicholls

Laut "Telegraph" wird Johnsons Stabschef Steve Barclay Gesundheitsminister.

Foto: REUTERS/John Sibley

Götterdämmerung in London: Binnen neun Minuten haben am Dienstag zwei der wichtigsten Kabinettsmitglieder aus Protest gegen Premier Boris Johnson ihren Rücktritt eingereicht. Dem früheren Finanz- und bisherigen Gesundheitsminister Sajid Javid folgte pünktlich zur Sendezeit der TV-Abendnachrichten dessen Nachfolger im Finanzressort Rishi Sunak. Die Briten, schrieb der Schatzkanzler, erwarteten zu Recht "korrektes, kompetentes und ernsthaftes Regierungshandeln".

Javid wurde noch deutlicher: Er müsse dem Regierungschef persönlich das Vertrauen entziehen. Die Konservativen seien nicht immer populär gewesen, aber sie hätten stets kompetent und im nationalen Interesse regiert. "Leider billigt uns die Öffentlichkeit mittlerweile weder das eine noch das andere zu." Auch zwei Staatssekretäre und der Generalstaatsanwalt für England und Wales gaben am Abend ihre Rücktritte auf sozialen Medien bekannt.

Die Zukunft des Premierministers sieht nach den beiden Rücktritten noch düsterer aus als im vergangenen Monat. Zunächst überlebte Johnson eine Vertrauensabstimmung in der Fraktion nur knapp mit 59 zu 41 Prozent. Vor zwei Wochen mussten die Tories bei zwei Nachwahlen verheerende Niederlagen einstecken, die darauf hindeuteten, dass sie das Vertrauen sowohl von Stammwählern wie von erst kürzlich wegen des EU-Austritts hinzugestoßenen Anhängern verloren haben. Partei-Chairman Oliver Dowden schmiss deshalb den Bettel hin, was aber bei seinen Kabinettskolleginnen keine Folgen zeitigte. Am Mittwoch sagte Johnson jedoch im Parlament, er werde nicht zurücktreten.

Nach dem Rücktritt seines Finanzministers Rishi Sunak sowie seines Gesundheitsministers Sajid Javid kehrt im Kabinett des britischen Premierministers weiter keine Ruhe ein. Der Staatssekretär im Ministerium für Kinder und Familie, Will Quince, teilte am Mittwoch auf Twitter mit, er reiche seinen Rücktritt "mit großer Traurigkeit" ein. Er fühle sich von Johnsons Büro falsch informiert über den Umgang des Premiers mit dem jüngsten Fall um Belästigungsvorwürfe. Dann nahm auch der für Schulen zuständige Robin Walker seinen Hut. Zu Mittag zog sich Finanzstaatssekretär John Glen zurück.

Sexuelle Übergriffe

Die jüngste Affäre scheint der berühmte Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. Vergangene Woche war der stellvertretende Fraktionsgeschäftsführer (Deputy Chief Whip) Christopher Pincher von seinem Posten zurückgetreten mit der Begründung, er habe "viel zu viel getrunken und sich und andere in Verlegenheit gebracht". In Wahrheit ging es, wie zuvor bereits bei mehr als einem halben Dutzend Fraktionskollegen, um sexuelle Übergriffe: Pincher hatte im konservativen Carlton Club junge Männer begrapscht – kein Einzelfall, wie sich in den nächsten Tagen herausstellte.

Wie aber konnte Johnson ausgerechnet den notorisch übergriffigen Abgeordneten in ein Regierungsamt berufen, zu dem auch die Behandlung heikler Beschwerden gegen konservative Abgeordnete gehört? Der Premierminister habe von Pinchers Ruf nichts gewusst, beteuerten Sprecher der Downing Street übers Wochenende. Daraufhin meldete sich Dienstagfrüh der frühere Amtschef des Foreign Office öffentlich zu Wort: Während Pinchers kurzer Tätigkeit als politischer Außenstaatssekretär sei eine Beschwerde gegen ihn geprüft und für korrekt befunden worden, wovon auch Johnson Kenntnis hatte.

"Stets redlich gehandelt"

Daraufhin musste ein unglückseliger Staatssekretär im Kabinettsbüro Dienstagmittag im Unterhaus die Verteidigungslinie ändern. Unter dem Hohngelächter der Opposition und eisigem Schweigen der eigenen Fraktion beteuerte Michael Ellis, sein Chef habe den damaligen Vorgang "vergessen: Der Premierminister hat stets redlich gehandelt." Johnson selbst entschuldigte sich in den Medien – wohl in der Hoffnung, damit einen Strich unter die Affäre zu ziehen.

Nicht nur Javid und Sunak aber scheinen zu dem Schluss gekommen zu sein, dass die dauernden Unredlichkeiten und glatten Lügen aus der Downing Street dem Land und der Partei schaden. Am Mittwoch muss sich Johnson nicht nur vor dem mächtigen Gremium sämtlicher Ausschussvorsitzender verantworten. Bei der Wahl für das einflussreiche Hinterbänkler-Komitee 1922 stehen zudem eine Reihe seiner Kritiker bereit, die Statuten der Partei zu ändern und eine baldige zweite Vertrauensabstimmung durchzusetzen. Ob es dazu kommt, dürfte sich noch diese Woche entscheiden.

Investmentbanker als Minister

In seinen zwölf Jahren im Unterhaus diente der frühere Investmentbanker Javid, 52, bereits als Ressortchef für Kultur, Wirtschaft, Regionales und Inneres, ehe Johnson ihn vor drei Jahren zum Schatzkanzler machte. Seine Unabhängigkeit vom Premierminister stellte Javid nur sieben Monate später unter Beweis: Anstatt sich von Johnsons damaligem Chefberater Dominic Cummings das Beraterteam oktroyieren zu lassen, reichte der Abgeordnete für den Wahlkreis Bromsgrove bei Birmingham seinen Rücktritt ein. Seine Amtszeit als Gesundheitsminister währte wenig mehr als ein Jahr. Ersetzen soll ihn der konservativen Tageszeitung "The Telegraph" zufolge Johnsons bisheriger Stabschef Steve Barclay.

Auch Sunak hatte als Investmentbanker viel Geld verdient, ehe er 2015 ins Parlament einzog und rasch Regierungskarriere machte. Im Finanzministerium hatte er alle wichtigen Staatssekretärsposten bekleidet, weshalb ihm bei Javids Rücktritt im Februar 2020 der Spitzenjob in den Schoß fiel. In der Corona-Pandemie bewährte sich der heute 42-Jährige als Krisenmanager und wurde zu einem der beliebtesten Politiker des Landes. Jüngste Steuererhöhungen sowie eine Affäre um den zweifelhaften Steuerstatus seiner milliardenschweren Frau haben seiner Popularität zuletzt geschadet. Sein Nachfolger ist der bisherige Bildungsminister Nadhim Zahawi.

Oppositionsführer Keir Starmer bezeichnete die Zurückgetretenen als Komplizen des "schändlichen Premierministers". Nur ein echter Regierungswechsel könne dem Land einen Neustart ermöglichen, so der Labour-Vorsitzende. "Das Kartenhaus aus Lügen und Täuschungen fällt in sich zusammen", kommentierte der Chef der Liberaldemokraten, Edward Davey, und wandte sich per Twitter direkt an Johnson: "Sie sollten jetzt gehen. Sie haben unser großartiges Land lang genug diskreditiert." (Sebastian Borger aus London, red, 5.7.2022)