Im schönen Bezirk Meidling tötete im Februar ein 58-jähriger psychisch Kranker seine Mutter. Der Suizid seines Zwillingsbruders im Sommer davor warf ihn aus der Bahn.

Foto: Heribert Corn

Wien – Bis zum Sommer 2021 führte Gerald T. ein unauffälliges Leben. Der heute 58-Jährige wuchs mit seinem Zwillingsbruder und zwei älteren Geschwistern auf, absolvierte erfolgreich eine Lehre, arbeitete Jahrzehnte beim selben Arbeitgeber. Mit dem Suizid seines Zwillings vor einem Jahr änderte sich das alles: Der Unbescholtene verfiel in eine schwere Depression, nun entscheidet ein Geschworenengericht unter Vorsitz von Thomas Spreitzer über seine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Denn am 16. Februar schlug er seiner 83 Jahre alten Mutter in der gemeinsamen Wohnung zweimal mit einer Hantel auf den Kopf, sodass die Frau sechs Tage später an den Verletzungsfolgen starb.

T. ist aber kein Angeklagter, sondern ein Betroffener, denn der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann ist überzeugt, dass der Wiener damals zurechnungsunfähig war und daher für seine Tat nicht verantwortlich gemacht werden kann. Warum er seine Mutter angriff, kann der Betroffene nicht sagen, im Verlauf der Verhandlung kommen allerdings mögliche Hintergründe ans Licht.

Mehrere Todesfälle

Vor über 30 Jahren starb T.s erstes Familienmitglied überraschend: Seine Schwester erlag mit 29 Jahren einem Herzversagen. Zu ihr habe er ein enges Verhältnis gehabt, sagt der Betroffene, die Trauer habe er doch verstärkte Arbeitsanstrengungen kompensiert. 2019 erlag sein Vater nach kurzer Krankheit einem Krebsleiden. Auch zu ihm habe er ein gutes Verhältnis gehabt, der Tod sei nach der Diagnose aber absehbar gewesen.

Vielleicht wurde der Zwillingsbruder vom Ableben des Vaters stärker erschüttert, er wurde jedenfalls arbeitsunfähig. Ein Burnout sei es gewesen, sagt T. vor Gericht, näher habe er mit seinem Bruder aber nicht über dessen psychische Probleme gesprochen. Einige Wochen vor dessen Selbsttötung sei der Bruder auf Besuch gewesen, erinnert der Betroffene sich, als nachgefragt wird. Und habe damals gesagt, er glaube, dass die Mutter ihn nie geliebt habe. "Hatten Sie auch den Eindruck, dass Ihr Bruder mit der Mutter mehr Konflikte hatte?", will Vorsitzender Spreitzer wissen. T. mag das nicht ausschließen.

14 Tage nach Selbsteinweisung im Spital

Nachdem sein Bruder Suizid begangen hatte, verschlechterte sich der psychische Zustand des Betroffenen schlagartig, bis er sich schließlich selbst wegen Depressionen und Suizidgedanken in die psychiatrische Abteilung der Klinik Hietzing einwies und 14 Tage stationär behandelt wurde. Aus Sicht von Gerichtssachverständigen Hofmann war die Behandlung wohl nicht ideal – bei der Entlassung bekam T. ein Psychopharmaka gegen die Depression verschrieben, laut Hofmann wäre aber die drei- bis vierfache Dosis therapeutisch sinnvoll gewesen. Da T. nach Hofmanns Überzeugung an einer "schweren psychotischen Depression" leidet, hätte man damals überhaupt auch ein zweites Medikament gegen die Psychose einsetzen müssen.

Man tat es nicht, später setzte T. auch das eine verschriebene Medikament wegen der Nebenwirkungen ab. Stattdessen zog die verwitwete Mutter zu T. in seine 60-Quadratmeter-Wohnung, um ihn im Alltag zu unterstützen. Zu gröberen Streitigkeiten sei es nicht gekommen, versichert der Betroffene. Es könne aber sein, dass er seinen Ärger "hineingefressen habe", gesteht er zu. Anfang Februar erhielt er dann von der Österreichischen Gesundheitskasse aus seiner Sicht eine Hiobsbotschaft: Sein Krankenstand würde nicht verlängert werden, wurde ihm angekündigt. Er fürchtete um einen bereits arrangierten Rehabilitationsaufenthalt und sah sich selbst in einer ausweglosen Situation.

Tatwaffe des toten Bruders

Am 16. Februar habe er sich noch den Olympischen Slalom der Herren angesehen, dann sei er Brot kaufen gegangen, erzählt T. stockend. Als er heimkam, sei die Mutter im Wohnzimmer gesessen und habe Telefonnummern in ein Notizbuch übertragen, ehe sie ins Badezimmer ging. "Dann bin ich in mein Kabinett gegangen, habe die Hantelstange genommen, ein Gewicht draufgegeben und habe ihr zweimal auf den Kopf geschlagen", beschreibt der Betroffene emotionslos.

Über vier Kilo hatte die Tatwaffe, die einst dem Zwillingsbruder gehörte, insgesamt. Laut dem medizinischen Sachverständigen Nikolaus Klupp erlitt die Frau durch den Angriff einen Schädelbasisbruch. Es könne aber nicht übermäßig fest zugeschlagen worden sein, hält Klupp fest, denn die Verletzte sei beim Eintreffen der von T. sofort alarmierten Polizei und Rettung noch ansprechbar gewesen.

"Geben Sie Ihrer Mutter eine Mitschuld am Tod Ihres Bruders?", fragt ein Laienrichter den Betroffenen. "Ja", lautet die knappe Antwort. "Wollten Sie Ihrer Mutter nur einen Denkzettel verpassen?", fragt der Geschworene nach. "Weiß ich nicht", kann T. nicht weiterhelfen. "Tut es Ihnen Leid, was passiert ist?", will eine Geschworene wissen. "Ja." – "Warum?" – T. schweigt. Der Vorsitzende formuliert die Frage ausführlicher: "Tut es Ihnen Leid, dass die Mutter nicht mehr da ist oder dass Sie jetzt deswegen hier sind?" – "Dass sie nicht mehr da ist", sagt der Betroffene.

Einsilbig und emotionslos wegen Krankheit

Die Einsilbigkeit und fehlende emotionale Beteiligung seien Symptome der Krankheit, erklärt Experte Hofmann dem Gericht. Grundsätzlich sei sie auch behandelbar, derzeit sieht er aber keine Chance auf die vom Verteidiger gewünschte bedingte Einweisung. Auch wenn die Mutter nun tot sei, zeige die Erfahrung, dass sich bei einer psychotischen Depression Aggressionen auch gegen Betreuungspersonal oder sogar Unbeteiligte richten könne. T. habe "aus dem Nichts heraus ein Kapitalverbrechen begangen", meint Hofmann, das könne derzeit wieder passieren. Sobald er aber medikamentös gut eingestellt und eine adäquate Nachbetreuung gesichert sei, könne man den Betroffenen durchaus wieder entlassen.

Das Gericht folgt dieser Einschätzung. Die Geschworenen entscheiden einstimmig, dass T. einen Mord begangen hat, dabei aber zurechnungsunfähig gewesen ist. Die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher begründet der Vorsitzende mit Hofmanns Gutachten. Nachdem das Urteil rechtskräftig wird, wünscht Spreitzer dem Betroffenen noch alles Gute. (Michael Möseneder, 6.7.2022)