Wladimir Putin hat seine Kriegsziele klar benannt: die Anerkennung der Krim als russisches Territorium sowie die Abtretung der Gebiete Donezk und Luhansk.

Foto: AP Photo/Dmitri Lovetsky

Manchmal, wenn er mit seinen russischen Freunden über die "Spezialoperation" redet, versteht Ihor die Welt nicht mehr. "Die meisten Russen kapieren nicht, was dort vor sich geht. Eine junge Kollegin hat mir erzählt, dass die Ukraine Russland angegriffen hat – angeblich weiß sie das aus dem Fernsehen."

Ihor, 35 Jahre alt, ist Ukrainer, arbeitet im Sport- und Fitnessbereich. Seit Jahren schon lebt er in Moskau. Er stammt aus Lyssytschansk, einer umkämpften Großstadt im Osten. Seinen vollen Namen sollen wir nicht nennen, sagt er dem STANDARD – er sei eben doch nicht so patriotisch, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj es derzeit von seinen Landsleuten einfordert. Da seien zum Beispiel die Denkmäler aus der Sowjetzeit, die jetzt in der Ukraine an vielen Orten abgerissen würden. Da sei er dagegen: "Meiner Meinung nach sollten wir das nicht tun. Das ist unsere gemeinsame Geschichte."

Gerade sind Ihors Eltern in Moskau angekommen – als Flüchtlinge. Die russischen Soldaten seien freundlich und höflich gewesen. Nur an der Grenze hätten sie lange warten müssen. "Wir standen über sechs Stunden im Freien, sie überprüften sehr lange die Männer, nicht die Frauen. Diejenigen, die die Grenze mit dem Auto überqueren wollten, standen tagelang in der Warteschlange."

Frieden ja – aber wie?

Wie soll es weitergehen? Lyssytschansk, die gesamte Region Luhansk, sei jetzt unter Kontrolle, so die russische Seite. Wird es Frieden geben? Und wann und wie?

"Durch Dialog", hofft Ihor. Aber wie Frieden erreichen? Die Kämpfe scheinen festgefahren. Die begrenzten, genau kalkulierten Waffenlieferungen des Westens werden der Ukraine nicht zum Sieg verhelfen. Das russische Militär scheint sich auf den Donbass zu konzentrieren. Der direkte Einmarsch der Nato ins Land, mit den Gefahren eines Atomkrieges, könnte entscheidend sein – aber das will niemand, es steht noch nicht einmal im Entferntesten zur Debatte.

Droht also ein jahrelanger Krieg in der Ukraine, mit immer neuen Milliardenhilfen über die bereits bezifferten, gigantischen 720 Milliarden Euro hinaus? Da werden die Menschen in den EU-Staaten – bereits jetzt gebeutelt durch enorm hohe Preise für Gas und Heizung – wohl kaum mitspielen.

Bleiben also Verhandlungen. Erst Ende August, nach Gegenangriffen, will der ukrainische Chefunterhändler David Arachamija die Friedensverhandlungen mit Moskau wieder aufnehmen, sagt er in einem Interview.

"Jetzt ist der Moment, in dem die westlichen Länder alles auf eine Fortsetzung des Kriegs setzen", meint indes in Moskau Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Unter Führung der USA erlaube der Westen den Ukrainern "weder an Frieden zu denken noch darüber zu reden oder ihn zu besprechen".

Was ist verhandelbar? Was nicht?

Doch wie sind die Positionen? Die Ukraine fordert einen russischen Rückzug hinter die Grenzen vom 24. Februar. Diesen wird Wladimir Putin nicht befehlen. Seine Kriegsziele hat er klar benannt: die Anerkennung der Krim als russisches Territorium sowie die Abtretung der Gebiete Donezk und Luhansk. Zudem gehe es um die "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung" der Ukraine sowie um deren Verzicht auf einen Nato-Beitritt.

Über Letzteres wird man verhandeln können. Auf Donezk, Luhansk und die Krim allerdings wird Russland nicht verzichten. Es zeichne sich bisher nicht ab, "dass eine Seite einen Grad militärischer Überlegenheit erreicht, der ein Ende des Krieges herbeiführt, weil eine Seite der anderen die Bedingungen diktieren kann", meinen Cindy Wittke vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung und Stefan Wolff von der University of Birmingham. "Es ist also mit einem länger währenden Verhandlungsprozess mit Fort- und Rückschritten zu rechnen, parallel zu andauernden Kampfhandlungen und vor allem mit Opfern in der Zivilbevölkerung."

"Ein wahrscheinlicher Ausgang ist daher, Stand heute, ein Abkommen, das einen vorübergehenden Waffenstillstand mit ‚Einfrierung‘ der militärischen Lage zur Folge hat", sagt wenig optimistisch André Härtel von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik. "Analog zu Minsk 2 könnten andere Punkte aufgenommen werden, hätten aber kaum Chancen auf langfristige Umsetzung. Vielmehr würden beide Parteien in einer jahrelang andauernden Atempause die Gelegenheit sehen, sich besser auf die nächste Eskalation vorzubereiten als der Gegner."

Ihor, der sich wohlfühlt mit seinen russischen Freunden und Kollegen, der gerne in Moskau lebt, wird wohl auch weiterhin von einem echten Frieden nur träumen können. Doch jetzt will er erst einmal Urlaub machen: in Georgien, nicht in der Ukraine. Denn dort würde er womöglich eingezogen, müsste an die Front. Zurück in seine Heimatstadt will er schon – irgendwann. Und nur zu Besuch. (Jo Angerer aus Moskau, 7.7.2022)