Auch ein Jahr danach wird auf den Straßen Haitis des ermordeten Präsidenten gedacht. Aufgeklärt ist die Bluttat bis heute nicht.

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Ein Jahr ist es her, dass ein Killerkommando kolumbianischer Söldner Haitis Präsident Jovenel Moïse mitten in der Nacht in seiner Villa mit zwölf Kugeln niederstreckte. Doch warum? Die Ermittlungen in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince kamen ziemlich schnell ins Stocken. Fünfmal wechselte der Richter, zweimal wurde in dem zuständigen Gericht eingebrochen, es wurden falsche Spuren gelegt und Ermittler bedroht. Was man heute weiß, stammt vor allem aus den USA, wo parallel Ermittlungen stattfinden, weil ein Teil des Komplotts offenbar im US-Bundesstaat Florida geplant wurde. Dort hatte die Agentur CTU Security ihren Sitz, die die 26 Söldner angeworben hatte. In Miami vor Gericht stehen drei der Hauptverdächtigen.

Zum einen der mutmaßliche Chef der Söldnertruppe, Mario Palacios. Ihm zufolge hatte die Truppe den Auftrag, Moïse festzunehmen und zum Flughafen zu bringen. Einen Tag zuvor sei daraus ein Mordbefehl geworden. Erteilt habe ihn der haitianische Geheimdienstchef Joseph Felix Badio. Badio ist untergetaucht. Handyprotokolle zeigen, dass er die Tage zuvor zahlreiche Gespräche mit einflussreichen Personen geführt hatte. Ein lokaler Geschäftsmann und Drogendealer namens Rodolphe Jaar hat zugegeben, die Waffen besorgt zu haben. Finanziert hatte das Komplott offenbar ein ehemaliger haitianischer Senator namens John Joel Joseph, der in Jamaika festgenommen wurde. Joseph steht der linken Lavalas-Bewegung des ehemaligen Armenpriesters Jean-Bertrand Aristide nahe und galt als Gegner von Moïse und dessen Partei Tet-Kalé.

Zweifelhafte Befehlskette

Doch unklar ist, ob die Befehlskette bei Joseph aufhört und welche Motive hinter dem Attentat steckten. Verdächtigt wird auch Premierminister Ariel Henry, weil er in der Mordnacht mit Badio telefoniert hatte und den Staatsanwalt absetzte, als dieser ihn deshalb vernehmen wollte. Kompliziert sind die Ermittlungen auch deshalb, weil Politik und organisierte Kriminalität in Haiti Hand in Hand gehen. Sowohl Lavalas als auch Tet-Kalé unterhalten enge Kontakte zu kriminellen Banden, die in Schmuggel, Waffen- und Drogengeschäfte verwickelt sind.

Moïse hatte kurz vor seinem Tod offenbar eine Liste der wichtigsten Drogenhändler des Landes erstellt. Diese wurde bis heute nicht gefunden. Laut Aussagen der Ehefrau von Moïse, Martine, durchwühlten die Attentäter das Büro nach Festplatten und Dokumenten. Allerdings sind die Beziehungen von Moïse zum Drogengeschäft auch unklar. Sein Sicherheitschef Dimitri Hérard reiste vor dem Mord mehrfach nach Kolumbien und stand offenbar unter Verdacht der US-Antidrogenbehörde Drug Enforcement Administration (DEA), selbst einen Schmugglerring zu steuern.

Währenddessen gleitet das bitterarme Land immer mehr in die Anarchie ab. Die internationale Gemeinschaft drängt auf baldige Neuwahlen, denn Haiti hat nicht nur keinen gewählten Präsidenten mehr, sondern auch kein Parlament. Dessen Amtszeit lief bereits 2018 ab; Moïse hatte per Dekret regiert. Haitis 16.000 Mann starke Polizeitruppe, die in den vergangenen 20 Jahren durch internationale Hilfe mühsam aufgebaut wurde, ist zu klein und korrumpiert. Rund 60 Prozent der Bevölkerung werden de facto von Kriminellen regiert.

Henrys wichtigster Gegenspieler ist derzeit ein ehemaliger Polizeichef und Bandenführer namens Jimmy Chérizier alias Barbecue. Er kontrolliert Teile der Hauptstadt Port-au-Prince, steht Tet-Kalé nahe – und fordert Henry immer wieder zum Rücktritt auf. Entführungen, Straßenblockaden und Schutzgelderpressungen sind an der Tagesordnung. Hospitäler und Schulen müssen oft tagelang geschlossen werden. Viele Menschen flüchten vor den Bandenkriegen. Vor allem junge, gut ausgebildete Menschen setzen sich ins Ausland ab.

Interesse schwindet

Die internationale Gemeinschaft, die seit den 1990er-Jahren viel Geld und Personal in die Demokratisierung Haitis und den Wiederaufbau nach dem Beben von 2010 steckte, hat das Interesse an dem Karibikstaat verloren. Dabei verantwortet sie vieles von dem Chaos mit: Uno-Blauhelme schleppten die Cholera ins Land und schwängerten hunderte Frauen, um die sie sich nicht mehr kümmerten. Viele Millionen Euro aus der Wiederaufbauhilfe Gemeinschaft versandeten in der Bürokratie und den Taschen korrupter Funktionäre und Unternehmer.

Zwar sanken Armut und Analphabetismus in den vergangenen Jahren, doch es entwickelte sich eine perverse gegenseitige Abhängigkeit. Haitis Elite gewöhnte sich daran, dass ihre Unfähigkeit zu Kompromissen von der internationalen Gemeinschaft gelöst wurde – die wiederum Patentrezepte importierte, die in der Realität auf der Karibikinsel nicht funktionierten. Und der Mord an Präsident Moïse, er bleibt bisher ungesühnt. (Sandra Weiss, 7.7.2022)