Für Boris Johnson wird es eng.

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Premier Johnson wurde zum Rücktritt aufgefordert – auch mit dem Shakespeare-Zitat, dem zufolge die Hölle leer sei.

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Zu Beginn der allwöchentlichen Fragestunde wird der britische Premier stets nach seinen Terminen gefragt. Kenner der Gepflogenheiten können die normale Antwort mitbeten: "Heute Morgen hatte ich Treffen mit Ministerkollegen und anderen, und später werde ich weitere solcher Treffen haben."

Boris Johnson und seine konservative Regierung stecken nach dem Rücktritt zweier hochkarätiger Minister am Dienstagabend wieder einmal tief im Schlamassel. Der Begräbnisstimmung versucht der 58-Jährige an diesem Mittwochmittag mit einer lustigen Bemerkung beizukommen: "Ich erwarte", sagt der Regierungschef auf Abruf, "heute auch weitere solcher Treffen zu haben."

Seiner hinter ihm sitzenden Fraktion war, erkennbar an den steinernen Mienen, nicht nach Scherzen zumute. Und Johnsons "Erwartung" erfüllte sich abends auf für ihn unangenehme Weise: Eine Delegation von Kabinettsmitgliedern, darunter die Ressortchefs für Finanzen, Wirtschaft und Verkehr, rieten dem Chef zum freiwilligen Verzicht. Zu den Verschwörern zählte auch der alte Brexit-Weggefährte Michael Gove. Auch Innenministerin Priti Patel legte dem Premier am Mittwochabend den Rücktritt nahe.

Leichtgewichte und Z-Liste

Ob Oppositionsführer Keir Starmer die Initiative provoziert hatte? Jedenfalls ritt der Labour-Vorsitzende im Unterhaus erst eine brutale Attacke auf sein Gegenüber für dessen Halbwahrheiten und ganze Lügen, ehe er unter dem Gejohle seiner Labour-Fraktion auf dem Kabinett herumtrampelt. Der "Brigade von Leichtgewichten", der "Z-Liste von Abnickern" fehle der Mumm, den Chef zur Demission zu zwingen; die Torys seien eine "korrumpierte Partei, die das Unvertretbare verteidigt".

Mit sehr viel vornehmeren Worten hatten tags zuvor zwei Kabinettsschwergewichte ihre Demission begründet. Die Briten, schrieb Finanzminister Rishi Sunak an Johnson, erwarteten zu Recht "korrektes, kompetentes und ernsthaftes Regierungshandeln". Weil er diese Werte hochhalten wolle, müsse er zurücktreten.

Gesundheitsminister Sajid Javid wurde noch deutlicher: Die Konservativen hätten stets kompetent und im nationalen Interesse regiert. "Leider billigt uns die Öffentlichkeit mittlerweile weder das eine noch das andere zu." Das liege am Ton und den Werten des Parteichefs: "Dies hat Auswirkungen auf Ihre Kollegen, Ihre Partei und letztlich das Land."

Er selbst habe lang die Balance zwischen seiner Integrität und der Loyalität zum Premier zu wahren versucht. "Aber jetzt reicht es." An seine früheren Kabinettskolleginnen gewandt sagte der 52-Jährige: "Auch Nichtstun ist eine aktive Entscheidung."

Dutzende Demissionen

Nicht nur Javid und Sunak scheinen zu dem Schluss gekommen zu sein, dass die dauernden Unredlichkeiten und Lügen aus der Downing Street dem Land und der Partei schaden. Bis Mittwochabend reichten rund drei Dutzend jüngerer und nachgeordneter Regierungsmitglieder – darunter aber auch 14 Ministerinnen und Minister – ihre Rücktritte ein. Dies sei ein neuer Rekord für einen einzigen Tag, hieß es. Die bisherige Höchstmarke habe bei elf Ministern im Jahr 1932 gelegen.

In der Nacht auf Donnerstag nahm auch der britische Minister für Wales seinen Hut. Simon Hart erklärte seinen Rücktritt am Abend auf Twitter. Berichte wonach auch Nordirlandminister Brandon Lewis zurücktrat, korrigierte die BBC später als unwahr. Kulturministerin Nadine Dorries und der erzkonservative Jacob-Rees-Mogg sollen Johnson indes die Stange halten.

Am Mittwochabend begaben sich mehrere Tory-Politiker und Regierungsmitglieder zur Downing Street 10, dem Amtssitz des britischen Premiers. In Einzelgesprächen sollen dabei einige den Rücktritt Johnsons gefordert haben. Johnson aber wollte laut Berichten britischer Journalistinnen und Journalisten vorerst nicht zurücktreten, sondern weiterkämpfen, um die quasi sichere Wahlniederlage abzuwenden. Es sei eine Entscheidung zwischen einem Sommer des ökonomischen Wiederaufbaus oder Duellen um die politische Führung, zitierte die Journalistin Anushka Asthana Insider.

Am Mittwochabend wollte das einflussreiche Hinterbänkler-Komitee-1922 eigentlich auch seinen Vorstand neu bestimmen; eine Mehrheit von Johnson-Kritikerinnen und Kritikern galt als gesichert. Diese könnten die Fraktionsstatuten ändern und eine zweite Vertrauensabstimmung durchsetzen, die eigentlich bis Juni 2023 ausgeschlossen ist. Laut britischen Medien soll diese Abstimmung aber doch erst am Montag stattfinden, nachdem die Mitglieder des Komitees neu gewählt wurden. Sir Graham Brady, der Vorsitzende des Komitees, war am Abend jedenfalls auch in der Downing Street zugegen.

Beim ersten Anlauf vor Monatsfrist hatte Johnson beim Misstrauensvotum noch knapp mit 59 zu 41 Prozent gesiegt und anschließend die Parole "business as usual" ausgegeben – die wenigsten rechnen aktuell damit, dass er auch ein zweites Votum überstehen würde. Vor zwei Wochen mussten die Tories zwei verheerende Wahlniederlagen einstecken, die darauf hindeuteten, dass sie das Vertrauen sowohl von Stammwählern wie auch von Brexit-Anhängern verloren haben. Partei-Chairman Oliver Dowden schmiss deshalb den Bettel hin, was aber bei seinen Kolleginnen und Kollegen keine Folgen zeigte.

Johnson entlässt engen Vertrauten Michael Gove

Wie auch Verkehrsminister Grant Shapps und Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng hatte sich der Bau- und Wohnungsminister Michael Gove, der zuletzt als enger Vertrauter Johnsons galt, am Mittwoch für Johnsons Rücktritt ausgesprochen. Meldungen britischer Medien zufolge folgte darauf am späten Mittwochabend dessen Entlassung durch den Premier – via Telefon.

Bis dato galt Gove als Verbündeter Johnsons, der diesem, als Premierminister die Treue hielt, obwohl er sowohl 2016 als auch 2019 gegen Johnson im Rennen um die Tory-Führung antrat. Gove ist eine hochrangige Persönlichkeit in der Konservativen Partei und hat seit seiner Ernennung zum Bildungsminister im Jahr 2010 eine Vielzahl an Ämtern bekleidet.

Auch die Generalstaatsanwältin Suella Braverman wendet sich einem Medienbericht zufolge von Johnson ab. Er müsse zurücktreten, sagt Braverman dem Sender ITV. Sie selbst könne sich vorstellen, für das Amt zu kandidieren. Braverman galt bisher als Unterstützerin des Premiers.

Übergriffiger Politiker

Die jüngste Affäre dreht sich um den stellvertretenden Fraktionsgeschäftsführer (Deputy Chief Whip) Christopher Pincher. Dieser hatte völlig betrunken im konservativen Carlton Club junge Männer begrapscht – kein Einzelfall, wie sich herausstellte. Wie aber konnte Johnson ausgerechnet den notorisch übergriffigen Politiker in ein Regierungsamt berufen, zu dem auch die Behandlung heikler Beschwerden gegen konservative Abgeordnete gehört?

Der Premier habe von Pinchers Ruf nichts gewusst, beteuerten dessen Sprecher übers Wochenende. Daraufhin meldete sich Dienstagfrüh der frühere Amtschef des Foreign Office zu Wort: Während Pinchers kurzer Tätigkeit als Außen-Staatssekretär sei eine Beschwerde gegen ihn geprüft und für korrekt befunden worden – wovon auch Johnson Kenntnis hatte.

Der Ertappte ging mit dem Vorwurf der Lügenhaftigkeit um wie zuvor mit Partygate, den Lobbying-Skandalen und seiner Missachtung des Ehrenkodex für Regierungsmitglieder: Er entschuldigte sich und verwies auf das "kolossale Mandat", das ihm die Briten bei der Wahl vor zweieinhalb Jahren erteilt hätten – eine Behauptung, die von der Verfassungsexpertin Hannah White als "konstitutioneller Analphabetismus" abgekanzelt wurde: "Das Mandat hat die konservative Partei, wir haben kein präsidentielles System."

"Brauchen Stabilität"

"Natürlich" werde er auch morgen noch Premier sein, sagte Johnson am Mittwoch: "Wir brauchen eine stabile Regierung." Als wolle er die Normalität betonen, erschien der Regierungschef am Abend zur wöchentlichen Online-Audienz mit der Queen.

Bereits am Abend zuvor waren die verwaisten Kabinettsposten wieder besetzt; das wichtige Amt des Schatzkanzlers musste der geschwächte Chef dem ehrgeizigen Nadhim Zahawi zuerkennen, um dessen angedrohten Rücktritt abzuwenden. Der 55-Jährige war zuletzt Bildungsminister, aber vor allem verlässlicher Apologet Johnsons. Dass er kaum 24 Stunden nach seiner Beförderung dem Chef den Rücktritt nahelegte, verdeutlichte die Dysfunktionalität der britischen Regierung. (Sebastian Borger aus London, faso, 6.7.2022)