Der erste konkrete Missbrauchsverdacht wurde der Leitung des Kindergartens am 24. März 2021 mitgeteilt. Andere Eltern erfuhren erst mehr als ein Jahr später davon.

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Die Kinder- und Jugendanwaltschaft kritisierte, dass die Eltern vom Kindergarten "mehr als ein Jahr lang hingehalten wurden" – und zwar mit dem Verweis darauf, dass man auf eine Entscheidung "von oben" warten müsse.

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Es ist ein verheerendes Bild, das der Bericht der Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) rund um die erhobenen Missbrauchsvorwürfe in einem Kindergarten in Wien-Penzing zeichnet. Demnach haben zwölf Eltern bereits seit dem Jahr 2020 Auffälligkeiten bei ihren Kindern festgestellt und diese auch den Pädagoginnen und Pädagogen des Kindergartens mitgeteilt – davon acht Eltern schon vor dem März 2021. Diese waren: Bettnässen, Alpträume, die vehemente Weigerung, in den Kindergarten zu gehen, Angst vor dem Gang zur Toilette oder zum Waschraum.

Im März des Vorjahres wurden von Eltern eines Kindes erstmals schwere Missbrauchsvorwürfe gegen einen Pädagogen erhoben. Weitere Väter und Mütter erfuhren aber erst mehr als ein Jahr später davon. Es gab zunächst "Halb- und Nichtinformationen" an die Eltern, wie Kinder- und Jugendanwalt Ercan Nik Nafs bei der Vorstellung des Berichts am Donnerstag sagte. Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) nannte es "sehr bedauerlich", dass nicht früh genug mit den Eltern kommuniziert wurde.

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Vorwürfe des teils schweren sexuellen Missbrauchs

Wie berichtet wird seit März 2021 gegen den betroffenen Pädagogen ermittelt. Die Staatsanwaltschaft Wien prüft in mittlerweile vier Fällen den Vorwurf des (teils schweren) sexuellen Missbrauchs von Unmündigen. Nach dem öffentlichen Bekanntwerden des Falls wurde Ende Mai 2022 ein weiterer ehemaliger Betreuer des Kindergartens in Penzing angezeigt: Ihm wird "pädagogisches Fehlverhalten" vorgeworfen, er soll etwa Kinder als Strafmaßnahme in einen Raum gesperrt haben. Es gilt in allen Fällen die Unschuldsvermutung. Der erste Betreuer wurde auf Anweisung durch die MA 11 (Kinder- und Jugendhilfe) bereits am 25. März 2021 vom Kinderdienst abgezogen, der zweite Betreuer wurde ebenfalls direkt nach Bekanntwerden der Vorwürfe versetzt.

Andere Eltern wurden trotz Aufforderung nicht informiert

Am 24. März 2021 teilten Eltern eines Kindes der Leitung der Einrichtung erstmals den Verdacht des schweren sexuellen Missbrauchs durch einen Pädagogen mit. Obwohl diese den Kindergarten mehrfach aufforderten, die anderen Eltern der Gruppe zu informieren, wurde dem aber nicht nachgekommen. Nik Nafs kritisierte, dass die Eltern "mehr als ein Jahr lang hingehalten wurden" – und zwar mit dem Verweis darauf, dass man auf eine Entscheidung "von oben" warten müsse.

Vernichtende Kritik an hierarchischen Strukturen

Die hierarchischen Strukturen vom Kindergarten bis hinauf zu den übergeordneten Stellen wurden im Bericht vernichtend kritisiert. Auch das Krisenmanagement nach dem medialen Bekanntwerden der Vorwürfe war mangelhaft. Dazu kam, dass "in Teilen der Organisation eine problematische Unternehmenskultur vorherrscht", wie vermerkt ist. Als Beispiele wurden autoritäre Führungsstile, Fehlerkultur, Angst vor Vorgesetzten, mangelnde Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung oder mangelnde Weitergabe von Informationen angeführt. Die Kommunikation in Richtung der Eltern war von "Halb- und Nichtinformation" geprägt: "Selbst als sich unter den Kindern das Gerücht verbreitete, der verdächtige Pädagoge wäre an Corona gestorben, unterließ der Kindergarten jegliche Klarstellung und Aufklärung."

Die Kinder- und Jugendanwaltschaft sieht zudem Hinweise darauf, dass selbst nach dem öffentlichen Bekanntwerden der Vorwürfe in Teilen der Kindergartenorganisation Wiens "ein Bewusstsein für das Thema Kinderschutz immer noch nicht ausreichend vorhanden ist". So hätte die MA 10 Anfang Juni 2022 einschlägige Schulungen abgesagt.

Personelle Konsequenzen

Bildungsstadtrat Wiederkehr verwies darauf, dass in den konkreten Verdachtsfällen zum Missbrauch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft abgewartet werden müssten. Er kritisierte aber, dass diese zu lange dauern würden. So wurde im ersten Verdachtsfall noch im Frühjahr 2021 ein Gutachten in Auftrag gegeben, das aber mehr als ein Jahr lang auf sich warten ließ. Diesen Umstand hatte auch schon die Staatsanwaltschaft kritisiert.

"Aktionsplan Kinderschutz" angekündigt

Erste personelle Konsequenzen aus dem Fall hat es bereits gegeben: So wurde die Kindergartenleitung ausgetauscht, außerdem wird es eine neue Regionalstellenleitung geben. Zuletzt wurde die Leiterin der Stadt-Wien-Kindergärten (MA 10) abgesetzt.

Am Donnerstag kündigte Wiederkehr einen "großen Aktionsplan Kinderschutz" an. Dieser umfasst vier Punkte: So soll innerhalb der MA 10 nach Empfehlung der Kinder- und Jugendanwaltschaft eine eigene Ombudsstelle eingerichtet werden. Hier sollen Kinder, Eltern sowie Pädagoginnen und Pädagogen ohne Beachtung von Hierarchiestufen melden können. Die Ombudsstelle soll mit jenen Problemen befasst werden, die "im Rahmen des üblichen Beschwerdemanagements nicht erledigt werden können".

Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der MA 10 ist ein eigenes Reporting Tool geplant, mit dem sie – auch anonym – Missstände und Probleme melden können. Sie sollen aber auch – auf Anregung der KJA – verpflichtende Schulungen im Bereich Kinderschutz erhalten. Das Kinderschutzkonzept der Stadt wird zudem weiterentwickelt, sagte Wiederkehr.

Die Kinder- und Jugendanwaltschaft regte zudem ein eigenes Kinderschutzgesetz für Wien sowie bundesgesetzliche Regelungen an. Wiederkehr meinte, dass bereits kommende Woche Expertengespräche stattfinden würden, danach könnten geplante gesetzliche Regelungen vorgestellt werden.

Die Wiener Grünen forderten Wiederkehr auf, seine Abteilung neu aufzustellen. Die ÖVP verlangte von der SPÖ, die bis Herbst 2020 den Bereich Kindergärten verantwortete, dass diese aktiv zur Aufklärung beitragen müsse. Die younion-Kindergartengewerkschaft forderte mehr Personal. Für die Umsetzung von Reformen würden 350 Pädagoginnen und Pädagogen fehlen. (David Krutzler, 7.7.2022)