Zu den Anzeichen für die unablässig schwindende Autorität Boris Johnsons als Premierminister gehörte nicht zuletzt die Offenheit, mit der konservative Kabinetts- und Fraktionsmitglieder ihre Ambitionen auf die Nachfolge erkennen ließen. Das gehört in normalen Zeiten zu den Tabus einer Politikszene, in der nach außen gezeigte Loyalität (und geschickte Doppelzüngigkeit) als hohe Tugend gilt. Allerdings konnte sie der notorisch illoyale Amtsinhaber kaum einfordern, ohne Hohngelächter zu ernten.

Rund ein Dutzend Frauen und Männer dürften an die Startlinie gehen, um First Lord of the Treasury zu werden, wie der Titel des Premiers offiziell lautet. Den Statuten der Tory-Partei zufolge wählt die Unterhausfraktion so lange, bis zwei Kandidatinnen übrigbleiben. Diese müssen sich der Urwahl durch die derzeit rund 200.000 Parteimitglieder stellen. Der oder die Neue dürfte deshalb erst im Herbst, wohl Anfang Oktober, feststehen.

Ob dann erstmals der Angehörige einer ethnischen Minderheit in die Downing Street 10 einzieht? Sajid Javid hat nicht nur die Erfahrung als Chef von sechs Ministerien, darunter die Kernressorts Finanzen, Inneres und Gesundheit, auf seiner Seite. Für den Sohn armer Einwanderer aus Pakistan und langjährigen Investmentbanker, 52, spricht auch, dass er Johnsons Kabinett zweimal im Protest gegen dessen Berserkermethoden verlassen hat. Seine knallharte Rücktrittsrede im Unterhaus am Mittwoch ("Enough is enough") hat zum Stimmungsumschwung gegen den Premierminister beigetragen.

Sajid Javid hat Boris Johnsons Kabinett zweimal im Protest verlassen.
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Hingegen dürfte der bisherige Finanzminister Rishi Sunak, lange als Johnsons Kronprinz gehandelt, durch ungeschicktes Taktieren seine Chance verspielt haben. Dem gerade einmal 42-Jährigen hängen zudem der unklare Steuerstatus seiner Frau und die Nähe seines milliardenschweren Schwiegervaters zu Indiens Populistenpremier Narendra Modi wie Mühlsteine um den Hals.

Rishi Sunak wurde lange als Boris Johnsons Kronprinz gehandelt.
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Besser sieht es für das dritte Einwandererkind aus, das nacheinander im mächtigen Schatzkanzleramt den Ton angibt. Nadhim Zahawi, 55, hat sich als Staatssekretär für das Corona-Impfprogramm und als Bildungsminister profiliert, dabei stets Johnson die Treue gehalten. Dass er sich am Dienstag zum Finanzchef berufen ließ und tags darauf dem Chef mitteilte, dieser müsse seinen Hut nehmen, hat Anklänge von "House of Cards", dem Politthriller um skrupellose Ambition und finstere Machenschaften. Dazu passt auch, dass Zahawi offenbar seit Monaten seine Kampagne plant.

Nadhim Zahawi hat Boris Johnson stets die Treue gehalten.
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Dies hat der Finanzminister gleich mit mehreren Parteifeinden gemein. Tom Tugendhat, Leiter des auswärtigen Ausschusses im Unterhaus, hat seine brennenden Ambitionen schon vor Monaten ausposaunt, was unter normalen Umständen als Karrierehemmnis gilt. Freilich hat der Liberalkonservative mutmaßlich ebenso geringe Chancen wie Ex-Außen- und Gesundheitsminister Jeremy Hunt, der 2019 in letzter Runde Johnson unterlag. Beim Parteivolk hoch gehandelt wird hingegen Außenministerin Elizabeth Truss, 46, obwohl ihr wie Tugendhat und Hunt der "Makel" anhaftet, 2016 für den EU-Verbleib gestimmt zu haben.

Elizabeth Truss gilt als begeisterte Brexit-Prophetin.
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Seither aber hat sich Truss als begeisterte Brexit-Prophetin positioniert, was für die Unterstützung durch die Parteibasis unablässlich ist. Nur so lässt sich auch erklären, warum der Hinterbänkler Steve Baker und die weit über ihre Fähigkeiten hinaus beförderte Generalstaatsanwältin Suella Braverman ihre Hüte in den Ring werfen wollen. Beide verfügen nur über geringste Regierungserfahrung, sind aber Brexit-Ultras und auf Krawall mit Brüssel gebürstet. Das liebt das Parteivolk.

Generalstaatsanwältin Suella Braverman will Boris Johnson ebenfalls gerne nachfolgen.
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Die Aktivisten-Website Conservative Home schiebt seit Monaten Penelope Mordaunt, 49, in den Vordergrund. Dass Johnson sie nicht in seinem Kabinett haben wollte, könnte der Handelsstaatssekretärin zum Vorteil gereichen. Hingegen mag das Festhalten am lügenhaften Premierminister ihren Mit-Brexiteers, den Kabinettsmitgliedern Priti Patel (Inneres) und Dominic Raab (Justiz sowie Vizepremier), negativ ausgelegt werden – oder etwa doch als Loyalität? Eine weitere Möglichkeit wäre Verteidigungsminister Ben Wallace, der sich zuletzt im Ukraine-Konflikt einiges an Profil erarbeiten konnte. Er liegt, glaubt man aktuellen Umfragen, in der Gunst der Parteimitglieder gut. Das Bewerbungskarussell jedenfalls befindet sich in voller Fahrt. (Sebastian Borger aus London, 7.7.2022)