Die genaue CO2-Bilanz von Kernkraftwerken ist schwer zu ermitteln und hängt stark vom Uranbergbau ab.

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Nun ist es geschehen: Atomkraft gilt in der EU als grün und wird wohl künftig mit Geldern versorgt werden, die eigentlich für das Erreichen der Klimawende vorgesehen sind. Österreich ist traditionell atomkraftkritisch, und die bereits vorab angedrohte Klage Österreichs gegen die Verordnung wird wohl kommen, wie Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) nochmals bekräftigt hat.

Andere Länder, allen voran Frankreich, hoffen mit Atomkraft den CO2-Ausstoß so weit reduzieren zu können, dass die Erderwärmung gestoppt werden kann, bevor sie gefährliche Kipppunkte jenseits der 1,5 bis 2 Grad Celsius erreicht. Denn, so der einfache Gedanke: Atomkraftwerke produzieren offenbar kein CO2. Die Probleme mit Atommüll könnten in Kauf genommen werden, um eine noch größere Katastrophe zu verhindern

Gerade im mit Wasserkraft gesegneten Österreich kann leicht übersehen werden, wie schleppend der Ausbau der Erneuerbaren Energie in weniger gebirgigen Ländern wie Frankreich oder Deutschland voranschreitet. Im nördlichen Nachbarland wird nach wie vor etwa ein Drittel des Stroms aus Kohle gewonnen und damit im Schnitt etwa gleich viel wie aus Windenergie – Stand 2022. Atomkraft könnte helfen, schneller von der besonders klimaschädlichen Kohle wegzukommen. Schätzungen zufolge verursachen Kernkraftwerke bis zu 40-mal weniger Treibhausgase als etwa Kraftwerke, die mit Gas betrieben werden – eine weitere Brückentechnologie, die nun als grün gelabelt wird.

Abhängig vom Urangehalt

Doch so einfach ist die Rechnung nicht, es gibt große Unbekannte in der Gleichung. Lieferketten, Abbau von Uran und die Verarbeitung und Lagerung von Atommüll müssen berücksichtigt werden. Und hier werden Zweifel an der Einschätzung des EU-Parlaments laut, etwa bei Fachleuten wie dem Physiker Wolfgang Liebert von der Universität für Bodenkultur Wien, der das Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften leitet. "Dass der CO2-Abdruck von Atomstrom nicht so leicht zu berechnen ist, liegt im Wesentlichen an den Uranressourcen, die verwendet werden. Der Urangehalt im Erz, den man schürfen kann, ist sehr, sehr unterschiedlich", sagt Liebert.

So sieht es auch sein Stellvertreter, der Physiker und Risikoforscher Nikolaus Müllner. Er hält es aus verschiedenen Gründen nicht für richtig, Kernenergie als nachhaltig zu labeln. "Die Ressourcen, die verwendet werden, sind endlich. Es fällt radioaktiver Abfall an, wofür es immer noch keine befriedigende Lösung gibt", sagt Müllner.

Grundsätzlich meint er, dass Kernkraftwerke, was die Treibhausgasbilanz angeht, im Vergleich zu Gas- und Kohlekraftwerken im niedrigen Bereich seien. Doch die Abschätzung sei schwierig, die Bandbreite sehr groß. "Ob die Kernkraftwerke zehn Gramm CO2 pro Kilowattstunde emittieren oder 150 Gramm pro Kilowattstunde – das ist ein großer Unterschied", sagt Müllner. Die Bandbreite der Ergebnisse bisheriger wissenschaftlicher Studien bewege sich durchaus in diesem Bereich. Zum Vergleich: Gaskraftwerke liegen bei mindestens 300 Gramm pro Kilowattstunde.

Energieintensiver Uranabbau

Auch Müllner nennt den Uranabbau als Unsicherheitsfaktor: "Vor allem, unter welchen Umständen das Uran abgebaut wird und welcher Urangehalt im Erz ist, ist entscheidend." Grundsätzlich brauchen Kernkraftwerke nur sehr geringe Mengen Brennstoff. Die Energieausbeute aus einem Kilogramm Uran ist mehr als eine Million mal höher als die aus der Verbrennung eines Kilogramms Erdgas gewonnene Energie.

Doch Uran liegt in der Natur nicht in reiner Form vor, sondern gebunden in Gestalt verschiedenster Erze. Der größte Uranproduzent der Erde ist Kasachstan, von dort stammten 2019 über 40 Prozent des Urans auf dem Weltmarkt. Bereits 2007 warnten Fachleute, leicht verfügbares Uran sei nicht in ausreichenden Mengen vorhanden. Höherer Aufwand in der Förderung und Aufbereitung schlägt sich in höherer CO2-Bilanz nieder. So hat etwa Kasachstan einen der höchsten CO2-Ausstöße pro Kopf weltweit, noch vor den USA. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt der Uranabbau.

Noch schwieriger gestaltet sich die Frage nach der Lagerung von Atommüll. Endlager sind auf Laufzeiten von Jahrtausenden ausgelegt. Hier sind Prognosen über Folgekosten in der CO2-Bilanz unmöglich. Die ökonomischen Kosten des langfristigen Umgangs mit Atommüll werden allein in Frankreich auf rund 50 Milliarden geschätzt.

Alternative Kernkraft noch nicht absehbar

Verschärft wird die Situation durch den Trend in Richtung miniaturisierter Kernkraftwerke, die auf Lkw oder Schiffe passen. Das Problem dabei: Sie sind von Natur aus weniger effizient als größere Reaktoren und produzieren mehr und noch schwerer handzuhabenden Atommüll. Weitere Alternativen wie Kernfusionsreaktoren lassen nach wie vor auf sich warten.

An der Eignung von Kernkraft als Brückentechnologie zum Erreichen von Klimazielen bleiben also Zweifel, ihre Einordnung als grüne Energie hält Müllner für falsch. Ob sich durch die Taxonomieverordnung viel ändern wird, vermag der Risikoforscher nicht zu sagen, aber: "Es ist auf jeden Fall ein falsches Signal." (Reinhard Kleindl, 8.7.2022)