Die Verdammten dieser Erde, das sind die Pauschaltouristen, im besten Fall sollte Reisen aber immer noch den Horizont erweitern ...
Foto: Elmar Gubisch

Reisen erweitert den Horizont. Wirklich? Reisen bringt den Humanismus in den Menschen zum Leuchten. Tatsächlich? Reisen verbindet und überwindet Missgunst und Vorurteile? Reisen stiftet Freundschaften und Frieden zwischen den Völkern. Bitte wo, bitte wann? Sonnige Badeorte, eine heitere, elegant gewandete Mitmenschenschar, kulinarische Höhepunkte, perfekter Service – all das dürfte nur in durch pharmakologische Produkte ausgelösten Tagträumen von Reisebüroangestellten zu finden sein. Stattdessen: diabolische Degustationen, infernalische Unterbringungen, subterrane Enttäuschungen.

Arnold Esch, "Die Via Salaria. Eine historische Wanderung vom Tiber bis auf die Höhen des Apennin". € 24,70 / 144 Seiten. C. H. Beck, 2022
Vincent Klink, "Ein Bauch spaziert durch Venedig". € 25,70 / 320 Seiten. Rowohlt, 2022
Tim Parks, "Der Weg des Helden. Auf Garibaldis Spuren von Rom nach Ravenna". € 28,80 / 480 Seiten. Kunstmann, 2022
Eric Pfeil, "Azzurro. Mit 100 Songs durch Italien". € 14,40 / 304 Seiten. Kiwi, 2022
Christian Schüle, "Vom Glück, unterwegs zu sein. Warum wir das Reisen lieben und brauchen". € 22,70 / 256 Seiten. Siedler, 2022
Christine Siebert, "Paris und das Kino. Die Seele einer Stadt in cineastischen Spaziergängen". € 22,70 / 232 Seiten.
Henschel, 2022

Die Verdammten dieser Erde, das sind Pauschaltouristen in Taxis in Kairo, in nachlässig gewarteten Reisebussen auf türkischen Gebirgspässen, in lecken Booten im indonesischen Inselreich. Oder, wie der nordamerikanische Satiriker P. J. O’Rourke einmal bemerkte: "Wer den Krieg für gefährlich hält, kennt den Verkehr in Beirut noch nicht. Es ist eine Millionenstadt mit drei Ampeln, und alle drei sind außer Betrieb." Gefeit war der Spötter auf Reisen auch gegen die einmalige Schönheit eines Landstrichs oder einer Stadt. "Bihaæ", resümierte O’Rourke beintrocken eine Impression aus Bosnien, "könnte auch in Österreich, in Bayern oder in der Toskana liegen, oder in dem neuen französischen Euro-Disneyland. Nur die Moschee wirkte deplatziert – und die Artillerieschäden."

Instagram-Existenzen

Worum geht es beim Reisen? Um das Versprechen der Freiheit. Es ging um Aussichten auf Sehnen jenseits von grauer Routine, fadem Alltag, gleichtönigem Trott. Ferien, die Vokabel verheißt Farbe, Rhythmus, Abenteuer, Erfüllung. Wieder. Und wieder. Und immer noch. Allerdings: Urlaubswünsche machen egozentrisch. Alle, die reisen, wollen authentischer, echter, romantischer als alle anderen das Fremde, das millionenfach reproduziert ist, wahrnehmen, fühlen, besser fotografieren als alle anderen.

Möbius-Paradox aller Instagram-Existenzen. Legen sie doch ihrerseits dem zu Tode Reproduzierten noch den Handyfoto-Sargdeckel drauf. Sie wollen schwärmen. Zu diesen Schwärmern gehört auch der deutsche Journalist Christian Schüle. Reisen ist ihm alles. Es ist ihm Denkerweiterung, Herzerweiterung. Schüle ist weit weltherumgekommen. Was er in seinem Buch Vom Glück, unterwegs zu sein. Warum wir das Reisen lieben und brauchenhäufig als Anekdote einflicht, ob nun ein Dominospiel um drei Uhr morgens in Kairo, Verlorensein im kolumbianischen Urwald oder eine gefährliche Lkw-Fahrt im vereisten Alaska. Schüle gesteht an einer Kernstelle: "Abenteuer gelingen ja am besten dort, wo man sich in doppelter Hinsicht verlieren kann: wo der kleine Mensch im großen Menschen verloren gehen und sich diesem Raum im Geiste dennoch zugleich entheben kann." Ihm geht es um dieses Extraquantum Kontrollverlust.

Schwärmen engt Kritik ein. Das zeigt der intellektuell überschaubare Gehalt dieses Bekenntnissatzes. Wer sich einmal im Senegal Denguefieber holte, in Indien an Shigellose, Ruhr, erkrankte, wem Surströmming von schwedischen Gastgebern vorgesetzt wurde, dem wird die von Schüle in geschmeidigem Magazindeutsch geschilderte "Erkenntnis von der Harmonie im Chaos" befremdlich bis naiv erscheinen. Schüle plädiert repetitiv für den Ordnungsverlust im Reisen und durch Reisen. Ohne dabei zu erklären, ob solch eine Überforderung positiv ist oder nicht doch negativ. Und was dabei der psychologische "Mehrwert" sein soll.

Ein Bauch auf Reisen

Abenteuer sind dem exzellenten und wohlbeleibten Stuttgarter Koch Vincent Klink eher fremd. Dafür isst er umso lieber. In seinem neuesten Buch Ein Bauch spaziert durch Venedig entführt er, der "Bauch", der durch Paris sich bereits schlemmte und durch Wien, nach Venedig. Mehrere Kurzreisen 2020 und 2021 liefern die gastronomischen Grundlagen. Er reist und isst sich durchs Veneto mit Abzweig ins Engadin und nach Südtirol und dann natürlich durch die Lagunenstadt. Plus Torcello. Als Enthusiast der belle arti beschreibt er auch Kunst und Architektur, wobei die überraschenden Einsichten sich eher im niedrigprozentigen Bereich bewegen. Dafür entschädigen Humor, Selbstironie und feine Diner-, Service- und Hotelschilderungen. Unangestrengt wie anregend liest sich das, ja, leicht. Im Gegensatz zu den oft niederziehenden vielgängigen Mittagsmenüs, die Klink sich einverleibt.

Von Venedig in die Sabina. Der Mittelalterhistoriker Arnold Esch lebte fast 40 Jahre in Rom, in den Jahren 1988 bis 2001 stand er dem Deutschen Historischen Institut vor. 1991 veröffentlichte er über die Via Salaria, eine antike Salzhandelsstraße, einen wissenschaftlichen Aufsatz. Damals war er die fast versunkene römische Straße mit dem Blick eines archäologischen Althistorikers entlanggewandert. Nun wiederholte er dies im Buch Die Via Salaria. Eine historische Wanderung vom Tiber bis auf die Höhen des Apennin. Es stellt sich die Frage ein: Wieso? Und warum hat der Verlag C.H. Beck daraus ein Buch gemacht? Zieht man die 51 Abbildungen ab und die Karten und beäugt man die großzügige Gestaltung, so handelt es sich recht eigentlich um ein überschaubar kurzes Nicht-Buch.

Esch traktiert die Via Salaria, die Strecke vom Tal des Tibers bei Montemaggiore bis zur Passhöhe des Appenin bei Torrita – den adriatischen Teil der Straße ignoriert er souverän –, akademisch. Zu selten blitzt der essayistische Erzähler auf, der entlang dieser via romana elegant Beobachtungen festhält. Via romana mit "römische Straße" zu übersetzen, ist in diesem Fall falsch. Denn tatsächlich gemeint mit dieser Wendung ist eine Straße, die nach Rom führt. Am Ende sind der Anspruch, aus der Via Salaria ein Sinn- und Fundbild der Historie zu machen, und die Realität der Ortungen und daraus gemünzten Erkenntnis-Derivate nicht deckungsgleich.

Der Weg des Helden

Ein ganz anderer Fall ist Der Weg des Helden. Auf Garibaldis Spuren von Rom nach Ravenna, das jüngste Italien-Buch des seit mehr als 40 Jahren in der Lombardei lebenden Engländers Tim Parks. Romancier, Literaturkritiker, Übersetzer und Hochschuldozent, zuletzt Professor für literarisches Übersetzen in Mailand, folgte er 2019 Garibaldi. Der 170 Jahre zuvor vier Wochen lang mit einigen Tausend Getreuen und seiner schwangeren Frau Anita von Rom nach Ravenna floh, verfolgt von Österreichern und Franzosen, wobei Anita starb.

Raffiniert schneidet Parks seine vierwöchige, 3000 Kilometer lange Wanderung mit Partnerin gegen die dramatischen Ereignisse nach dem Scheitern der ausgerufenen "Repubblica Romana". Wenn auch Garibaldi psychologisch etwas weichzeichnend, weil bewundernd skizziert ist, so liest man doch ein wirklich aufschlussreiches Porträt der Verhältnisse in den tiefländlichen Teilen des Stiefellands. Man liest von Isolation, Vernachlässigung, Apathie und Zerrissenheit, die im scharfen Kontrast zu Garibaldis energetischem Kampf für ein geeintes Italien stehen.

Dem Kölner Musikjournalisten und Musiker Eric Pfeil muss man diese Idee neiden: Italien in 100 canzone schildern. Seine Liste endet in Azzurro. Mit 100 Songs durch Italien mit "Voce" (2021) von Madame und beginnt mit "Aida" (1976) von Rino Gaetano. Über jedes Lied sinniert Pfeil mal mehr, mal weniger elanvoll originell, in einer Vignette, drei bis vier Seiten kurz. Die Auswahl aus 60 Jahren reicht von Vinicio Capossela bis zu Pop wie Rafs "Self Control", von Fabrizio De André über Adriano Celentano zu, wohl unvermeidlich, "Volare", zu Lucio Dalla, zu Richi e Poveri. Ein erlesenes Buch zum Singen.

Wer das Medium wechseln will und das Land, der kann die "Seele" der französischen Kapitale, so der Anspruch der in Paris lebenden Christine Siebert, in Buchform entdecken. Und im Buch Paris und das Kino. Die Seele einer Stadt in cineastischen Spaziergängen erforschen. Allein schon numerisch – Paris zählt so viele Kinofilmsäle wie keine andere Stadt in West- und Mitteleuropa. Jeden Tag werden dort an die 200 Film- und Fernsehproduktionen gedreht.

Paris und das Kino. Das war von Anbeginn an, seit den allerersten Pariser Vorführungen dieser bahn- und oft auch herzbrechenden Innovation durch die frères Lumière am 28. Dezember 1895, eine enorme und erwiderte Liebesbeziehung. Kaum ein Paris-Film, in dem man nicht die Stadtarchitektur wiedererkennt, seit Georges Méliès und der nouvelle vague zu Cédric Klapisch, Julie Delpy und Jacques Audiard. Siebert behandelt diverse Arrondissements wie auch Nicht-Orte wie die Métro oder den Friedhof Père-Lachaise. Anekdoten trüffeln den Text, der Lust auf die Filme macht. Und auf Paris. Und auf eine Reise dorthin. Und von dort weiter, immer weiter. (Alexander Kluy, 10.7.2022)