London – Am Tag nach dem angekündigten Rückzug Boris Johnsons von seinen Jobs als Tory-Parteichef und Premierminister haben sich die Stimmen gehäuft, die nach seinem sofortigen Abgang rufen. Johnson hatte am Donnerstag erklärt, bis zur Wahl eines Nachfolgers Regierungschef bleiben zu wollen. Das zuständige Tory-Parteigremium soll Anfang kommender Woche den Rahmen für die Wahl eines neuen Parteichefs festlegen. Das kann Wochen oder sogar Monate dauern.

DER STANDARD

Labour droht mit Misstrauensabstimmung

Angela Rayner, die stellvertretende Chefin der oppositionellen Labour Party, erklärte, man könne es sich nicht leisten, dass der "nachweisliche Lügner" Johnson noch ein paar Monate das Land lenke. Sie drohte mit einer Misstrauensabstimmung im Parlament, wenn die Konservativen ihren Chef nicht schneller loswürden.

Allerdings müssten bei einer parlamentarischen Misstrauensabstimmung die konservativen Abgeordneten gegen Johnson stimmen – dies würde aber eine Neuwahl auslösen, was nicht im Sinne der Tories ist. Im Gegensatz dazu steht ein Misstrauensvotum innerhalb der Fraktion – ein solches hat Johnson jedoch gerade erst überstanden, ein weiteres ist so knapp danach nicht möglich.

Boris Johnson gibt den Parteivorsitz und das Premiersamt ab – das Rennen um die Nachfolge hat begonnen.
Foto: Reuters/Ogirenko

"Ich denke, die konservativen Abgeordneten müssen ihn heute loswerden", sagte der Chef der Liberaldemokraten, Ed Davey, am Freitag. Es sei lächerlich, dass Johnson noch geschäftsführender Premierminister sei.

Innerhalb der konservativen Partei bringen sich mehr und mehr potenzielle Nachfolger in Stellung. Ex-Finanzminister Rishi Sunak werde sich als "ernsthafter Kandidat für eine ernsthafte Zeit" für das Rennen um die Führung aufstellen und argumentiere, er sei der einzige Kandidat mit Integrität, berichtete die Londoner "Times" am Freitag. Sunak ist erst diese Woche aus Protest gegen Johnsons Führung zurückgetreten – wie rund vier Dutzend weiterer Regierungsmitglieder. Er werde argumentieren, dass er die "Marke" der konservativen Partei retten könne und die Erfahrung mitbringe, die Wirtschaftskrise zu bewältigen, schrieb die "Times".

Rishi Sunak bringt sich als "ernsthafter Kandidat" in Stellung.
Foto: AFP/Leal

Neben Sunak bringt sich noch rund ein Dutzend weiterer potenzieller Kandidaten für das Premiersamt in Position – wobei sich erst wenige tatsächlich deklariert haben. Dazu zählen der Außenpolitiker Tom Tugendhat und die Generalstaatsanwältin Suella Braverman. Auch der selbsternannte "hard man of Brexit" Steve Baker hat seinen Hut in den Ring geworfen. Gute Chancen werden der Außenministerin Liz Truss und dem Verteidigungsminister Ben Wallace zugerechnet. Die Partei wird die Auswahl der Kandidaten auf genau zwei reduzieren, die sodann den knapp zweihunderttausend Parteimitgliedern zur Abstimmung präsentiert werden. (Michael Vosatka, 8.7.2022)