Bereits zu Lebzeiten schieden sich die Geister an Shinzo Abe. Für die Kritiker des bei einem Attentat erschossenen ehemaligen Premiers symbolisierte Abe das chauvinistische und rückwärtsgewandte Nippon, weil er als Premierminister einen Schlussstrich unter die Übernahme der Verantwortung Japans für den Zweiten Weltkrieg in Asien gezogen hatte. Im Jahr 2015, zum 70. Jahrestag des Kriegsendes, bestätigte er zwar frühere Reuebekundungen für die "Aktionen im Krieg", aber entschuldigte sich nicht mehr.

"Das prägende Element seiner Karriere war Geschichtsrevisionismus", kommentierte der deutsche Historiker Sven Saaler von der Tokioter Sophia-Universität. Abe wollte die pazifistische Verfassung, die Japan seiner Ansicht nach von den USA nach dem verlorenen Weltkrieg oktroyiert wurde, zugunsten eines stärkeren Staates überarbeiten. Seinen lebenslangen Reformtraum konnte er jedoch nie verwirklichen.

Shinzo Abe, Japans umstrittener Premier.
Foto: AP/Inouye

Wohlwollende betrachteten ihn als pragmatischen Reformer, der die Wirtschaft und das Bündnis mit den USA stärkte, "damit Japan niemals zu einer Nation zweiter Klasse absteigt", wie er es einmal selbst formulierte. Zusammen mit der Notenbank setzte Abe auf eine ultralockere Geldpolitik und hohe Staatsausgaben und schloss bedeutende Handelsverträge mit der Europäischen Union und den Anrainerstaaten des Pazifiks ab.

In seiner Amtszeit öffnete sich Japan so stark wie nie zuvor für ausländische Arbeitskräfte, Investoren und Touristen. Vor schmerzhaften Strukturreformen drückte er sich jedoch. Immerhin erbrachte seine Regierung den Nachweis, dass eine hochentwickelte Wirtschaft trotz einer schrumpfenden Bevölkerung wachsen kann.

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Längste Amtszeit

Mit seinen Amtszeiten zwischen 2006 und 2007 und danach von Ende 2012 bis September 2020 regierte Abe so lange wie kein anderer Premierminister Japans. Ein wichtiges Erbe dürfte darin bestehen, Japan näher an Asien herangeführt zu haben. Mit seiner Vision von einem "freien und offenen Indopazifik" weckte der Politiker in Asien das Bewusstsein für das Hegemoniestreben von China und stärkte durch eine offensive Investitionspolitik die wirtschaftlichen Beziehungen Japans zu der Region. "Indien und Südostasien begrüßten das selbstbewusstere Japan als proaktiven und stabilisierenden Regionaleinfluss", meinte Yoichi Funabashi, Chairman der Denkfabrik Asia Pacific Institute.

Nationale Stärkung

Aus der Sicht von Zeitgeschichtlern vertrat Abe als erster Premier den neuen Konsens der Elite, das weltpolitische Gewicht ihres Landes langfristig zu sichern. Dieser Konsens hatte sich gebildet, nachdem Japan im Zuge der Finanzkrise von China als zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt abgelöst worden war. Als Projekt der nationalen Stärkung ließ sich auch die Austragung der Olympischen Spiele in Tokio, die sich durch die Corona-Pandemie um ein Jahr bis 2021 verzögerte, interpretieren. Mit seiner Versicherung, das Atomkraftwerk Fukushima sei unter Kontrolle, half Abe persönlich, Olympia nach Japan zu holen.

Doch viele außenpolitische Projekte blieben stecken, vor allem der erhoffte Friedensvertrag mit Russland und die Aufklärung des Schicksals von nach Nordkorea entführten Japanern. Seine rekordlange Regierungszeit hatte Abe zwei Faktoren zu verdanken: Zum einen erlebte die japanische Wirtschaft mehrere Blütejahre, zum anderen blieb die Opposition immer schwach.

Stabilität

Nicht einmal diverse Korruptionsskandale änderten dies. "Die Herstellung politischer Stabilität lässt sich als sein wesentlicher Erfolg hervorheben", meinte der deutsche Japan-Experte Sebastian Maslow. Abe habe die Liberaldemokraten nach Jahren interner Machtkämpfe und vieler Finanzskandale rehabilitiert und wieder regierungsfähig gemacht.

Abe beeindruckte weder als Redner noch als Intellektueller. Was ihn an die politische Spitze brachte, war seine Abstammung aus einer begüterten Familie mit tiefen Wurzeln in der japanischen Politik. Sein Großonkel Eisaku Sato war ebenso Premierminister wie sein Großvater Nobusuke Kishi, sein Vater Shintaro brachte es zum Außenminister. Diese Herkunft verpflichtete. Nun ist Shinzo Abe an den Folgen eines Attentats im Alter von 67 Jahren gestorben. (Martin Fritz aus Tokio, 8.7.2022)