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Bub oder Mädchen oder ...? Die Frage, wie viele Geschlechter es gibt, lässt die Wogen hochgehen.
Foto: Picturedesk/Dpa/Waltraud Grubitzsch

Biologische Sicht

"Geschlechter sind keine Schubladen": Biologische Definition mit offenen Grenzen

Was ist männlich und was ist weiblich? Auf diese doch recht ausufernde Frage gibt es in der Biologie eine recht einfache Antwort: Den Unterschied macht die Größe der Geschlechtszellen, also Ei- und Samenzellen. "Die Basisdefinition von männlichem und weiblichem Geschlecht in der Biologie ist, dass das männliche Geschlecht jenes mit den kleinen Geschlechtszellen ist und das weibliche jenes mit den großen", sagt Elisabeth Oberzaucher, Verhaltensbiologin an der Universität Wien. "In der Biologie ist man sich daher sehr einig, was männlich ist und was weiblich."

Vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Debatten zu Mehrgeschlechtlichkeit kommt nun auch dem biologischen Verständnis der Geschlechter vermehrt öffentliche Aufmerksamkeit zu. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass das Thema auch aus biologischer Perspektive Raum für Debatten öffnet. Historisch dominiert in der biologischen Forschung zwar das Modell der Zweigeschlechtlichkeit. Jedoch gab es bereits vor einem Jahrhundert Überlegungen zu Transsexualität und einem fließenden Übergang zwischen den Geschlechtern – lange bevor dies ein gesellschaftliches Aufregerthema wurde.

XX und XY

Für den Menschen gibt es neben der Größe der Geschlechtszellen ein anderes Kriterium, das bei der Unterscheidung der Geschlechter noch stärker zum Tragen kommt: das 23. Chromosomenpaar. Frauen tragen an dieser Stelle in der Regel ein XX, Männer hingegen XY. "Die Geschlechter auf rein genetische Ebene runterzubrechen ist zwar ein sehr einfacher Ansatz, kommt dem Ganzen aber auch nicht nahe", sagt Oberzaucher.

Denn generell lassen sich die Geschlechter in der Biologie nicht "starr nach Schubladen" einteilen, wie die Verhaltensbiologin betont. Bekanntermaßen gibt es Eigenschaften, die zwischen Männern und Frauen unterschiedlich ausgeprägt sind. Der Fachbegriff dafür lautet Sexualdimorphismus.

"Das heißt aber nicht, dass diese Eigenschaften Frauen vollkommen fehlen und bei Männern immer gleich stark ausgeprägt sind. Es gibt in der Regel Überlappungsbereiche, wo Frauen quasi männlichere Ausprägungen haben und manche Männer weiblichere Ausprägungen haben als manche Frauen", sagt Oberzaucher. Ein Beispiel für einen Sexualdimorphismus ist die Körpergröße: Typischerweise sind Männer im Durchschnitt etwas größer als Frauen. Umgekehrt gilt aber: Wenn man die Größe einer Person kennt, lässt sich dadurch keineswegs auf das Geschlecht schließen.

Keine absolute Trennschärfe

"Wenn wir in einer Population einen Sexualdimorphismus nachweisen können, erlaubt uns das auf keinen Fall, einen Rückschluss auf ein Individuum zu treffen", sagt Oberzaucher. "Es gibt weder bei den kulturell geformten Eigenschaften noch bei den biologisch geformten Eigenschaften dieses eine Merkmal, das eine absolute Trennschärfe zwischen männlich und weiblich hat."

In der Biologie gibt es also konkrete Definitionen zum weiblichen und männlichen Geschlecht, und es gibt korrelierende Eigenschaften für die beiden Geschlechter. Doch diese Binarität ist – wie Oberzaucher es ausdrückt – "eine Annäherung, die die tatsächliche Differenziertheit auf keinen Fall abbilden kann". Statt getrennten Schubladen bringt Oberzaucher das Bild von "unterschiedlichen Ausprägungen entlang einer Achse" ins Spiel.

Problematische Praktiken

Historisch hatte die Wissenschaft lange Zeit einen blinden Fleck gegenüber Intersex-Personen, die biologisch weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zu 100 Prozent zuzuordnen sind. Diese Ignoranz zog problematische medizinische Praktiken nach sich: etwa dass Neugeborene, die nicht klar einem Geschlecht zugeordnet werden konnten, Operationen unterzogen wurden – oftmals mit verheerenden persönlichen Folgen für die Betroffenen.

Eine gewichtige Stimme, die die Vorstellung der Zweigeschlechtlichkeit ins Wanken brachte, war die US-amerikanische Biowissenschafterin Anne Fausto-Sterling, Professorin Emerita für Biologie und Gender Studies an der renommierten Brown University in Providence, Rhode Island.

Bereits in den frühen 1990er-Jahren machte Fausto-Sterling den – wie sie selbst einmal feststellte, "provokanten" – Vorschlag, dass es nicht nur zwei, sondern fünf Geschlechter gebe. Die Arbeit "The Five Sexes" war ein Meilenstein in der Geschlechterforschung und führt bis heute zu hitzigen Diskussionen. (Tanja Traxler, 10.7.2022)

Gesellschaftspolitische Sicht

"Finger weg von der Schöpfung": Gegenwind für Selbstbestimmung in Deutschland

Noch liegt in Deutschland das Selbstbestimmungsgesetz nicht vor, nicht einmal als Entwurf. Es gibt vorerst ein Eckpunktepapier der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP.

Doch in Österreich stellt VP-Generalsekretärin Laura Sachslehner via Twitter schon einmal klar: "Das ist vollkommen absurd & wissenschaftsfeindlich. Nach Belieben einmal im Jahr das Geschlecht ändern zu können, wird es mit uns in Österreich nicht geben."

In Deutschland soll es theoretisch möglich sein. Die Intention des Gesetzes wird aber nicht lauten: Geht in Massen auf die Standesämter, seid 2023 männlich, 2024 weiblich und im Jahr darauf divers. Niemand rechnet damit, dass Millionen Deutsche derart verfahren werden.

Änderung ohne Gutachten

Denn wer sein Geschlecht aus Jux kurz mal wechseln möchte, vergisst: Eine Eintragung am Standesamt hat Konsequenzen. Es müssen dann auch Pass, Führerschein und Kreditkarten umgeschrieben werden. Vielmehr möchte die Ampel Erleichterungen für Trans-, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen. Sie sollen ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister unkompliziert und ohne Gutachten ändern lassen können.

Die Gruppe derer, die dies tun wird, ist – im Vergleich zur deutschen Gesamtbevölkerung mit ihren 83 Millionen Menschen – sehr klein. Und dennoch: Es herrscht große Aufregung.

Auf den Barrikaden ganz oben ist die AfD zu finden. Vor drei Wochen hat sie im sächsischen Riesa einen Parteitag abgehalten, es gab viele Ämter zu besetzen. Auffällig: Immer wieder leiteten Kandidaten ihre Vorstellung mit der Betonung ein, sie seien "ganz normale Männer".

"Geschlecht à la carte"

Das geplante Selbstbestimmungsgesetz, sagt die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch, diene dazu "ideologisch-fanatisierte Splittergruppen zu befriedigen". Biologische "Realitäten" würden dafür geopfert. Storch hatte in einer Bundestagsdebatte zum Frauentag für Empörung gesorgt, weil sie über die transsexuelle Grünen-Abgeordnete Tessa Ganserer, in deren Geburtsurkunde Markus Ganserer seht, sagte: "Wenn der Kollege Markus Ganserer Rock, Lippenstift, Hackenschuhe trägt, dann ist das völlig in Ordnung. Es ist aber seine Privatsache. Biologisch und juristisch ist und bleibt er ein Mann."

Doch nicht nur in der Politik stoßen SPD, Grüne und FDP mit ihren Plänen auf Widerstand. "Finger weg von der Schöpfung", warnt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Von einer "Naturkatastrophe" ist die Rede, wenn es künftig heiße: "Geschlecht à la carte oder eher noch: All you can eat." Letzteres würde eigentlich bedeuten, dass jemand so viele Geschlechter wie möglich annimmt. Davon kann aber keine Rede sein.

Auch das Magazin Cicero schreibt von der "Normalisierung des Unnormalen" – während die Bild-Zeitung feststellt: "Gut, dass die Ampel hier reformiert, es den wenigen Betroffenen leichter machen und ihnen die bisherigen demütigenden Prozeduren ersparen will." Und das Blatt aus dem Hause Springer ahnt, dass die Debatten, die noch kommen "für alle Seiten" nicht einfach werden.

Umstrittener Vortrag an der Uni

In Springers Welt hingegen war kürzlich ein Beitrag zu lesen, in dem kritisiert wurde, dass die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ARD und ZDF "unsere Kinder sexualisieren und umerziehen". Anlass war eine Episode der populären Sendung mit der Maus, in der aus Erik Katja wurde.

Co-Autorin Marie-Luise Vollbrecht, eine Biologin, sollte wenig später an der Berliner Humboldt-Uni einen Vortrag mit dem Titel "Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt" halten. Nach Protesten von Studierenden und Vorwürfen, sie sei "transfeindlich", wurde dieser abgesagt. Nun heißt es, man werde die Veranstaltung nachholen, aber mit anschließender Diskussionsrunde.

Erstaunt hat viele ein Beitrag der Feministin Alice Schwarzer. Sie sieht das neue Selbstbestimmungsgesetz kritisch und spricht von einer regelrechten "Trans-Mode". Zwar verstehe sie das Leiden "echter Transsexueller", doch mittlerweile wollten ja "zehntausende junge Mädchen" einfach ihr Geschlecht wechseln.

Diese Ansicht wiederum hält der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) für "falsch und unverantwortlich". Er meint: "Selbstbestimmtes lesbisches und schwules Leben bedeutet in der Regel auch einen Ausbruch aus überkommenen Rollenerwartungen." (Birgit Baumann aus Berlin, 10.7.2022)