Karoline Edtstadler ist seit Jänner 2020 Ministerin für EU und Verfassung.
Foto: Heribert Corn

Ihr Hund Struppi mag es sich im Bundeskanzleramt zuweilen gemütlich machen, Edststadler selbst ist immer auf Achse. Geberkonferenz in Lugano, New York, Brüssel, Straßburg, dazwischen Verhandlungen in Wien. Edtstadler gilt als Personalreserve in der ÖVP. Ein Gespräch über Europa- und Innenpolitik.

STANDARD: Sie sagten vor kurzem bei einer Diskussion, die österreichische Neutralität müsse sich weiterentwickeln. Wie meinen Sie das?

Edtstadler: Es ging in dieser Diskussion um den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die Frage, ob uns die Nato nicht besser schützen würde als die Neutralität. Da habe ich gesagt, dass sich die österreichische Neutralität seit 1955 verändert hat. Insbesondere durch den Beitritt Österreichs zur EU 1995, und zwar so weit, dass wir da auch Verfassungsgesetze angepasst haben. Die heutige Neutralität besagt im Grunde, dass wir uns keinem militärischen Bündnis anschließen dürfen, dass wir keine ausländischen militärischen Stützpunkte in Österreich zulassen und uns nicht aktiv auf der Seite einer Kriegspartei an einem Konflikt beteiligen dürfen. Alles andere ist zulässig. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine müssen wir unsere Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in Österreich neu denken. Die Neutralität verpflichtet uns auch, verteidigungsfähig zu sein.

STANDARD: Was heißt das konkret?

Edtstadler: Ich war vor einigen Jahren noch überzeugt, dass wir nie wieder eine Panzerschlacht auf europäischem Boden erleben werden. Die Realität hat uns eines Besseren belehrt. Wir müssen ganz sicher das Verteidigungsbudget erhöhen. Wir müssen uns so ausstatten, dass unsere Verteidigungssysteme auch kompatibel sind mit anderen Mitgliedsstaaten. Auch das Zusammenspiel mit anderen Mitgliedsstaaten müssen wir auf neue Beine stellen.

STANDARD: Trotzdem gibt es, nach der Beitrittswillenserklärung Schwedens und Finnlands, nur wenige neutrale Staaten in der EU. Besteht die Gefahr, dass Österreich isoliert dasteht?

Edtstadler: Wir sind überhaupt nicht isoliert. Die Entscheidung Finnlands und Schwedens ist vor dem Hintergrund der geografischen Situation zu sehen. Noch einmal: Österreich ist ja nur militärisch neutral. Das heißt nicht, dass Österreich politisch neutral ist, wenn es um Völkerrechtsbruch, Krieg oder um Terrorismus geht. Ich glaube, das haben wir sehr, sehr klar gemacht.

STANDARD: Die Ukraine ist EU-Beitrittskandidat, die Westbalkanstaaten müssen weiter warten. Sie und der Bundeskanzler wollten das verhindern. Sind Sie gescheitert?

Edtstadler: Ganz im Gegenteil. Österreich war entscheidende Kraft dahinter, dass die Frage des Kandidatenstatus für Bosnien-Herzegowina nicht nur auf die Agenda, sondern auch in die Schlussfolgerungen kam. Das haben wir erreicht. Hätte ich mir mehr gewünscht? Ja. Aber ich bin nicht naiv und habe schon gemerkt, wie wichtig der Beitrittsstatus als Symbol für die Ukraine ist. Aber es gibt jetzt auch dieses Momentum für Bosnien-Herzegowina, und wir müssen diesen Prozess zeitnah und detailliert weiterverfolgen.

Sie wollen nur spielen: Hund Struppi kommt im Bundeskanzleramt kurz zu seinem Recht, dann gehts wieder um Politik.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Hat Österreich Verbündete in der EU? Ex-Kanzler Kurz setzte auf die Visegrád-Staaten, auf wen setzt Nehammer?

Edtstadler: Das hängt vom Thema ab. Das schätze ich auch so an der europäischen Politik, dass man themenbezogen arbeitet. Egal, aus welcher parteipolitischen Richtung man kommt. Wir haben auch in der Westbalkanfrage Verbündete gehabt. Slowenien, Irland – aber auch Spanien. Das ist nichts Gottgegebenes, daran muss man hart arbeiten. Das tun wir.

STANDARD: Die Regierung hat die Impfpflicht im Spätherbst des Vorjahres eingeführt, im Winter dann ausgesetzt, jetzt ganz abgeschafft. Was sagen Sie als Verfassungsministerin: Geht man so mit einem Gesetz um?

Edtstadler: Ich stehe dazu: Es war ein gutes, modernes Gesetz, um auf alle Gegebenheiten Rücksicht nehmen zu können. Es entstand zu einer Zeit, als eine sehr gefährliche Virusvariante unsere medizinischen Kapazitäten an ihre Grenzen geführt hat. Heute sind wir, trotz wieder relativ hoher Infektionszahlen, in einer anderen Situation. Und am Ende ist es immer eine Entscheidung des Parlaments, ob es ein Gesetz auf den Weg bringt oder wieder abschafft. Das ist jetzt geschehen.

STANDARD: Die Justiz ist permanent im Gerede. Es gibt politische Seilschaften und gegenseitiges Misstrauen. Tut die Justizministerin genug, um hier aufzuräumen?

Edtstadler: Es gibt in der Tat einiges, was in der Justiz auf die Höhe des 21. Jahrhunderts gebracht werden muss. Mir geht es zu langsam, ich glaube, es könnte hier mehr vorangetrieben werden. Wenn ich alleine an die Beschlagnahmung von Handys und die Sicherstellung von Daten denke. Das ist durch die geltende Strafprozessordnung unzureichend geregelt. Auf unseren Mobiltelefonen ist heute unser ganzes Leben abgebildet. Wie stellen wir sicher, dass das Private auch privat bleibt? Unter welchen Voraussetzungen kann das beschlagnahmt werden? Nach welchen Kriterien werte ich aus, was ist mit Informationen, die nicht zur Strafakte genommen werden? Die gehören aus meiner Sicht zurückgegeben oder vernichtet. Da müssen wir dringend die Gesetze anpassen.

STANDARD: Gibt es dazu Verhandlungen?

Edtstadler: Es gibt im Justizministerium wohl Überlegungen, wie man die Beschuldigtenrechte stärken und einen ordentlichen Kostenersatz im Falle von Freispruch oder Einstellung einführen kann. Ich habe aber noch keinen konkreten Entwurf erhalten.

STANDARD:Wann kommt der Bundesstaatsanwalt?

Edtstadler: Ich weiß, dass es vor dem Sommer noch eine Runde der Arbeitsgruppe der Justizministerin gab. Die politischen Gespräche dazu haben allerdings noch nicht begonnen, dazu braucht es einen konkreten Entwurf der Justizministerin.

STANDARD: Soll die Kontrollinstanz der Staatsanwälte eine Person oder ein Gremium sein?

Edtstadler: Es muss jedenfalls ein System sein, das besser ist als das jetzige. Letztlich geht es um eine Verantwortung gegenüber dem Parlament, dem Souverän. Ohne mir zu allen noch offenen Fragen schon eine abschließende Meinung gebildet zu haben: Eine Person, die dem Parlament verantwortlich ist, ist tatsächlich selbst verantwortlich. Bei einem Gremium ist das nicht so klar.

STANDARD: Wann wird das Amtsgeheimnis abgeschafft?

Edtstadler: Die Abschaffung des Amtsgeheimnisses und die Einführung eines Rechts auf Zugang zu Information sind ein Paradigmenwechsel. Das Bekenntnis zu mehr Transparenz ist allseits vorhanden, das zeigen auch die Stellungnahmen im Begutachtungsprozess. Dennoch sind auch die Sorgen und Bedenken von Gemeinden, Ländern, Unternehmen und anderen betroffenen Stellen sehr ernst zu nehmen. Das tun wir. Ich werde in den nächsten Wochen mit Vizekanzler Werner Kogler Gespräche führen, und wir werden weiter versuchen, die Bedenken gemeinsam auszuräumen.

Edtstadler: "Es gibt einiges, was in der Justiz auf die Höhe des 21. Jahrhunderts gebracht werden muss. Mir geht es zu langsam, ich glaube, es könnte hier mehr vorangetrieben werden."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Wann kommt das Gesetz?

Edtstadler: Wir haben es uns für diese Legislaturperiode vorgenommen. Auf ein konkretes Datum möchte ich mich im Hinblick auf die noch zu führenden Gespräche nicht festlegen. Letztlich muss das Gesetz für jene, die es umsetzen müssen, gut anwendbar sein.

STANDARD: Wenn man dieser Tage mit ÖVP-Politikern spricht, hört man immer wieder, "alle sind gegen die ÖVP". Empfinden Sie das auch so?

Edtstadler: Im Untersuchungsausschuss ist es sicher so, dass sich alles auf die ÖVP fokussiert. Das besagt ja schon der Titel des Ausschusses. Das Zweite ist, dass man die ÖVP als solche unter Generalverdacht stellt. Und dagegen verwehre ich mich aufs Schärfste. Wer ist die ÖVP? Die ÖVP ist die Partei, die die meisten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister stellt, sechs Landeshauptleute stellt, Landtagsabgeordnete, Bundesräte, Nationalratsabgeordnete und unzählige motivierte Funktionärinnen und Funktionäre hat. Sie alle fühlen sich angesprochen, wenn es heißt, "die ÖVP ist korrupt". Ich bestreite keineswegs, dass es Einzelfälle geben mag, aber eine ganze Partei diesbezüglich abzustempeln ist weder wahr noch gerecht.

STANDARD: Zeigt etwa die Inseratenaffäre in Vorarlberg keine Systematik? Oder die Auffassung von Postenbesetzungen in der Ära Kurz? Warum sagt man nicht in der ÖVP: Fehler sind passiert, es tut uns leid, wir bessern uns?

Edtstadler: Als ehemalige Richterin bin ich immer dafür aufzuklären, wenn es irgendwo Verfehlungen gegeben hat. Da gibt es überhaupt nichts dran zu rütteln. Aber das betrifft ja Einzelpersonen. Und was passiert jetzt? In der Diskussion gibt es immer diese pauschalisierte Verurteilung und auch ein systematisches Außerachtlassen der Unschuldsvermutung. Etwa wenn jetzt die Rede ist von angeblichen Wahlkampfkosten-Überschreitungen: Es ist kein strafrechtlicher, sondern ein verwaltungsrechtlicher Vorwurf, und trotzdem wird alles medial in einen Topf geworfen.

STANDARD: Wie ist die Stimmung in der Koalition? Man hört von wachsenden Animositäten.

Edtstadler: Ich habe wirklich mit allen Regierungsmitgliedern, insbesondere auch mit den Grünen, ein gutes Einvernehmen. Das ist eine sehr vernünftige Zusammenarbeit, wo wir alle wissen, dass wir nicht nur aus unterschiedlichen Welten kommen, sondern dass wir jeden Tag harte Entscheidungen treffen müssen, die massive Auswirkungen auf Menschen haben. Trotzdem glaube ich, gerade in Zeiten wie diesen muss man diese Verantwortung wahrnehmen.

STANDARD: Als Sebastian Kurz zurücktrat, gab es das Gerücht, Sie könnten Kanzlerin werden. Haben Sie nach wie vor Interesse?

Edtstadler: Wer sagt, dass ich damals Interesse hatte? (lacht) Im Ernst: Als man mir vor einigen Jahren das Staatssekretariat angeboten hat, habe ich gedacht: Nihil petere, nihil recusare – nichts anstreben, nichts ablehnen. Mittlerweile bin ich für europäische Angelegenheiten zuständig und für die Verfassung. Ich gehe jeden Tag voller Stolz und Demut ins Bundeskanzleramt. Das klingt pathetisch, aber ich finde es toll, dieser Republik dienen zu dürfen. Das ist alles, was dazu zu sagen ist.

STANDARD: Anders gefragt: Reizt Sie der Posten der EU-Kommissarin?

Edtstadler: Nihil petere, nihil recusare. (Interview: Petra Stuiber, 9.7.2022)