Franz Schuh konstatiert ein generelles "Unbehagen an der Moderne": Die Menschen würden vom Fortschritt ausgehöhlt.

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Vom "Guten, Wahren und Schlechten" handelt das jüngst erschienene Lesebuch, das Franz-Schuh-Schriften aus fünf Jahrzehnten auf den Prüfstand stellt. Fazit: In kaum einem Punkt hat die Wirklichkeit gegenüber Schuh recht behalten! Von allen Unsinnigkeiten die fürchterlichste aber ist der Krieg: der Philosoph über Pazifismus, Macht und Unbehagen.

STANDARD: In den öffentlichen Debatten über den Ukraine-Krieg greift vielfach ein forscher Ton Platz. Pazifistische Köpfe verbreiten sich plötzlich über die Notwendigkeit "schwerer Waffen". Wie lässt sich das erklären?

Schuh: Es ist ein Opportunismus grundsätzlicher Art. In Zeiten, in denen ein friedensbewegter Pazifismus "angesagt" ist, wird es einen Mainstream von Pazifisten geben. Gibt es harte Konflikte, wird man militant. Mit dem Krieg wird die Menschheit nicht fertig: Es gibt Krieg, weil Macht existiert, und weil Macht existiert, existiert auch Gewalt. Macht hat ihre "guten", ihre notwendigen Seiten. Aber der Missbrauch liegt ihr. Bei all dem Treiben tauchte plötzlich, in einer uralten Aufnahme, Ingeborg Bachmann auf. Sie sagte: Über den Krieg jammern, das kann jeder. Was man jedoch nicht kann, ist einzusehen, dass der existierende Friede eine Art Krieg ist, ein eingefrorener Krieg – der im "heißen" Krieg explodiert. Auch deshalb war der Krieg bisher unabwendbar.

STANDARD: Was heißt das mit Blick auf den Pazifismus?

Schuh: Sigmund Freud schrieb von einer "konstitutionellen Intoleranz gegen Aggression und Gewalt". Solche Menschen verabscheuen den Krieg als Ausdruck äußerster Barbarei. Ihre Aversion ist physisch, körperlich affektauslösend. Es ist ein Ekel, über den man sich nicht hinwegsetzen kann. Freuds Frage lautete dann: "Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die Anderen Pazifisten werden?" Warten, wie auf Godot, muss man, auch wenn die gesamte Kulturentwicklung gegen den Krieg arbeitet.

STANDARD: Der für Menschen unabwendbar wird?

Schuh: Es gibt eine nüchterne Analyse des Krieges, die Alexander Kluge lebenslang betrieben hat: den Versuch, Krieg als eine Variante von Arbeit darzustellen. Krieg ist nicht bloß ein moralisches Phänomen. Sondern Krieg ist eine Art der spätkapitalistischen Industrie. Er wird mit Fleiß organisiert, siehe den auf der Wannsee-Konferenz bürokratisch durchkomponierten Völkermord. Und last, not least gibt es eine Betrachtungsweise todbringender Macht, die Elias Canetti thematisierte, "die archaische Macht".

STANDARD: Die Grausamkeit frühkultureller Exzesse?

Schuh: Es gibt Verhaltensweisen, die psychologisch nicht aufklärbar sind. Man kann Aggressionen und Regressionen und auch den Hass erklären. Darüber hinaus existieren tiefe Bindungen, die den Tod und die Ausübung von Macht betreffen und die der beruhigenden Aufklärung nicht zugänglich sind: das Bild vom Machthaber, der als einzig Überlebender auf dem Leichenberg steht.

STANDARD: Der Machthaber erhöht sich durch die Leichen der anderen?

Schuh: Das wäre zu psychologisch. Es ist nicht der Narzissmus, nichts Subjektives, sondern eine Perversion des Überlebenstriebs, der weniger aus einer Wahl als aus den Ritualen der Macht resultiert. Wladimir Putin hoch zu Ross – dergleichen findet sich bei Canetti gut beschrieben: Das Pferd ermöglicht die unmittelbare Weiterleitung des Befehls. Der Befehl führt über den Körper direkt in den Tierkörper hinein. Diese Linearität der Machtausübung über den Körper hat etwas Erfüllendes, etwas Verschmelzendes. Zwischen Macht und Liebe würde man gerne absolut unterscheiden können. Aber in der Zeitung steht, dass jemand aus Liebe seine Ex-Frau, sein Kind und die Freundin der Frau (weil sie ja schuld an der Zerstörung seiner Familie ist) umgebracht hat.

STANDARD: Aus lauter Liebe.

Schuh: Es gibt bei Gefühlsaufwallungen, die zu Mörderischem führen, einen Wackelkontakt, eine Koinzidenz der Gegensätze. Das versucht man, dialektisch zu beschreiben. Aber es bleibt unkontrollierbar für diejenigen, die sich am Wackelkontakt entzünden. Angst weckt oft Mordlust, entsetzlich ist auch, dass man die Mordlust durch den Krieg "nationalisieren" kann. Das zeigt sich anhand der Schriften Fichtes: Es besteht zwischen der Subjektivierung und der Nationalisierung ein Zusammenhang. Die Nation wird als eine Art zu verteidigendes "Ich" gesehen.

STANDARD: Der Idealist Fichte sprach die "deutsche Nation" direkt an.

Schuh: Verständlich, weil die napoleonischen Angriffe auf das gute deutsche Wesen einen Schock erzeugt hatten. Einen solchen Schock arbeitet man ab. Die Nationalisierung solcher Gewalttaten exponiert das Ich gegenüber den "anderen". Wieweit für eine vom Alltag terrorisierte Bevölkerung solche Überlegungen heute einen Sinn haben, weiß ich nicht. Immanuel Kant sagte, wir werden entweder ewig Frieden haben, oder wir werden ewigen Frieden à la Friedhof haben. Es müssen Prinzipien gelten, damit der Friede wenigstens die nächsten 14 Tage hält. Eines dieser Prinzipien ist seit der Aufklärung spruchreif: Man überfällt kein anderes Land.

STANDARD: Was tun mit voraufklärerisch Handelnden?

Schuh: Wenn es passiert – und es erscheint unabwendbar, dass es passierte –, so war es nur nicht von vornherein durchschaut worden. Interessen sind verschieden. Kooperation basiert auf einer Ideologie, die auf Globalisierung setzt. Globalisieren, "Wohlstand schaffen", alles das. Dass es die "Nähen" sind, die die Gefahren bergen, während einen die Ferne retten könnte, das hätte man wissen können.

STANDARD: Wir haben viel zu global gedacht?

Schuh: Nennen wir es primitiv: "Kapitalismus". Diese Form der Produktion, die aus einem Immer-mehr von Produktion besteht, führt auch geografisch zu einer Erweiterung. Damit immer mehr produziert wird, musst du Zusammenhänge produzieren, die nicht auf der Hand liegen. Solche Zusammenhänge schaffen politisch-moralische Probleme. Nämlich die, dass man im Umgang mit Diktatoren nicht so tun kann, als wollte man mit ihnen nichts zu tun haben. Sondern man guckt und schaut, was man bei ihnen herausholen kann. Der Diktator ist plötzlich da, nach einer kriegsvorbereitenden Friedenszeit, und er will alles. Er will alles zurück. Dadurch bringt er, wie die dümmliche Phrase lautet, "die Weltordnung durcheinander".

STANDARD: Aber er sucht keinen Ausgleich der Interessen.

Schuh: Solche Leute wie unser ehemaliger Wirtschaftskammer-Präsident und seine Entourage sind bereit, politisch-moralisch zu sagen: "Das ist uns im Grunde wurscht." Und der Diktator, wenn er einigermaßen bei Sinnen ist, ist ein Zyniker und verhöhnt sein geschäftemachendes Gegenüber mit dem Diktum: "Guter Diktator! Guter Diktator!" Der Gute macht aus der Idiotie des Vertrauens, das ihm entgegengebracht wird, ein Kasperltheater. Über der Notwendigkeit, "Handel zu treiben", wurde die Entwicklung hin zum Krieg gern übersehen.

STANDARD: Fehlte es an Hinweisen?

Schuh: Warnungen gibt es immer. Die Ungarn konnten Putins Verhalten besser kalkulieren, weil sie es an Viktor Orbán ablesen konnten: Orbán, der Putin fürs Sensible! Es ist ein Phänomen, dass viele Menschen ein "Unbehagen an der Moderne" stets verspürt haben. Dieser soziologische Terminus beschreibt, dass die modernen Lebensregeln Menschen aushöhlen und ihnen den Gedanken nehmen, dass sie durch die Moderne unendliche Vorteile haben. Menschenmengen, die sich zum Beispiel von der Impfrationalität bedroht fühlen, sind nicht einfach belehrbar. Sie fühlen sich wie im Tanz auf dem Vulkan, dessen Feuerkraft nicht kontrollierbar ist. Und der, wie wir von Ingeborg Bachmann wissen, dann ausbricht. (Ronald Pohl, 9.7.2022)