Ausgerechnet am Dienstag war es trüb, Temperatursturz, wiederkehrender Nieselregen; nicht unbedingt, was man sich für ein Sommerfest wünscht, aber das Wetter bringt in den Regierungsparteien niemanden mehr aus der Fassung, und Rückschläge ist man inzwischen gewohnt. Die Stimmung war dann aber "überraschend gut", wie es ein ÖVP-Politiker formuliert. Bei dem Heurigen in Neustift wurde guter Wein ausgeschenkt, es gab sogar vegetarische Speisen, wird erzählt. "Die Situation ist natürlich schwierig, aber wir bringen viel weiter", sagt eine Grüne. Da sei es doch auch nicht schlecht, wenn man sich einmal im ausgelassenen Rahmen austauschen könne – vielleicht auch einfach nicht über Politik.

Und so war das sommerliche Get-together der Parlamentsklubs von ÖVP und Grünen diese Woche dann wohl doch kein gut geeichter Gradmesser für die koalitionäre Betriebstemperatur: "Am Abend, wenn es um nichts geht, ist alles in Ordnung", wie es ein Dabeigewesener ausdrückt. "Aber das heißt ja noch nicht viel."

Wie geht es also der Koalition? Was plant die Opposition angesichts eines näherrückenden Herbstes, der auch in der Regierung manche ängstlich stimmt? Welche Rolle spielt die Bundespräsidentschaftswahl, die noch vor dem Winter ansteht? Wie wird es weitergehen? Ein innenpolitischer Lagebericht.

Chancenlose Verzweiflung

In Österreichs politischen Kreisen wird dieser Tage gerne der Ausspruch eines amerikanischen Ex-Präsidenten zitiert. Er könnte jemanden auf der Fifth Avenue in New York erschießen und würde trotzdem keine Stimmen verlieren, hat Donald Trump im Jahr 2016 geprahlt. Die Situation von Kanzler Karl Nehammer sei das genaue Gegenteil, sagen einige Meinungsforscher und Politikberater. Gemeint ist: Nehammer könne derzeit tun, was er wolle. Zu gewinnen gibt es nicht viel. Selbst innerhalb der ÖVP habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass keine Maßnahme die Popularität der Regierung rasch steigern könnte – und dass harte Zeiten auf Österreich zukämen.

Nehammer wirkt als Kanzler und ÖVP-Chef inzwischen wie ein Fußballer, der eingewechselt wurde, als das Spiel schon so gut wie verloren war. Für die Verhältnisse kann er nur wenig: Der Umgang mit der Pandemie hat den Vertrauensverlust gegenüber der Politik verstärkt, statt einer Atempause servierte das Weltgeschehen der erschöpften Bevölkerung einen Krieg in Europa samt Energiekrise und Inflation.

Sie müssen die Regierung durch herausfordernde Zeiten navigieren: Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und sein Vize Werner Kogler (Grüne).
Foto: APA / Tobias Steinmaurer

Dazu kommen in der ÖVP viele hausgemachte Probleme, die Nehammer von seinem Vorgänger Sebastian Kurz geerbt hat. An der Volkspartei klebt das Image der Skandalpartei fest, wie eine Umfrage für den STANDARD im Mai gezeigt hat. So wenige Befragte wie noch nie im vergangenen Jahrzehnt sagen, dass die ÖVP der nächsten Bundesregierung angehören soll – konkret will das nur mehr ein Drittel der Österreicherinnen und Österreicher. Auch bei der Sonntagsfrage sackt die ÖVP immer mehr ab, während die SPÖ – ohne großes eigenes Zutun, wie viele finden – stetig zulegt.

Im inneren Zirkel rund um Nehammer soll darüber immer mehr Verzweiflung herrschen. Theoretisch könnte der Kanzler auf Zeit setzen: Bis zum regulären Wahltermin im Jahr 2024 ist noch viel Spielraum; womöglich sogar genug, damit sich die Wirtschaft wieder erholt. Aber hält er es aus, bis dahin so viel Kritik einstecken zu müssen? Bei den Grünen sagen einige: Er hält das überraschend gut aus, auch wenn man natürlich nie wisse, was in Menschen wirklich vorgehe.

Die Wirkung des milliardenschweren Antiteuerungspakets, das reihum Lob aus der Fachwelt bekam, war jedenfalls überschaubar. Auf die wenigen guten Nachrichten folgen katastrophale – etwa die schallende Ohrfeige für den ÖVP-Rechenschaftsbericht des Wahljahres 2019 durch den Rechnungshof. Unterschrieben hatte den Karl Nehammer, damals ÖVP-Generalsekretär.

Kann Nehammer Krise?

Dass die Regierung selbst mit Positivem kaum noch durchdringt, wird selbst in der Opposition mit einer gewissen Sorge beobachtet. Zumindest hinter vorgehaltener Hand geben manche Oppositionspolitikerinnen zu, dass ÖVP und Grünen gerade bei der Teuerung schon etwas gelungen sei, auch wenn man manches anders gemacht hätte. Aber in ihrer Kommunikation nach außen bringe die Koalition das einfach nicht mehr unter die Leute. Dafür hätten Nehammer und die türkisen Erben in den vergangenen Monaten durch ständig neue Affären einfach zu viel Vertrauen verspielt.

Doch nicht nur das. Die Regierung habe sich in der Corona-Pandemie als schlechte Krisenmanagerin einen Namen gemacht, wie die Opposition häufig kritisiert. Diese Erfahrung nähre die Sorge in der Bevölkerung, dass auch die aktuelle Krise nicht gut gemeistert werden könnte. Die Gesellschaft könne durch die Energiekrise schwer ins Wanken geraten und davon vor allem die Freiheitlichen und andere Populisten profitieren, fürchten Oppositionelle abseits der FPÖ.

Wird als Hofburg-Kandidatin der FPÖ gehandelt: die Juristin Susanne Fürst.
Foto: Imago Images / Martin Juen

Daher sei es so wichtig, den vor allem finanziellen Schaden in der Bevölkerung, so gut es geht, abzudämpfen – um soziale Umwälzungen zu vermeiden. Die aktuellen Teuerungspakete seien ein Anfang, würden dafür aber nicht ausreichen. Da widerspricht wohl selbst in der Regierung niemand.

Aber wie kommt die Politik aus der Vertrauenskrise? In der Bevölkerung gibt es offenbar eine gewisse Sehnsucht nach einer neuen Partei, die allerdings kein klares Profil hat. Seit Wochen schwirrt das Gerücht herum, dass Ex-SPÖ-Kanzler Christian Kern mit einer eigenen Fraktion ein Politik-Comeback bei der nächsten Nationalratswahl wagen wolle. Kern selbst dementiert das vehement und schließt eine Rückkehr in die Politik für immer aus. Bemerkenswert ist dennoch, dass eine Partei mit dem Namen "Die besten Köpfe" mit Kern an der Spitze laut einer Lazarsfeld-Umfrage aus dem Stand 20 Prozent erreichen könnte. Obwohl weder die Gruppierung noch eine Kampagne dazu existiert.

Wink mit dem Zaunpfahl

"Das liegt an der Unzufriedenheit mit allen anderen", sagt die Politikwissenschafterin Karin Stainer-Hämmerle. Laut der Expertin nehme der Glaube an die Problemlösungsfähigkeit von Demokratien in der Gesellschaft ab. "Dazu haben auch die Parteien viel beigetragen", sagt Stainer-Hämmerle. Aber das Umfrageergebnis der fiktiven Kern-Partei will sie alles in allem nicht überbewerten. "Ich erinnere daran, dass auch das Team Stronach anfangs 20 Prozent in den Umfragen hatte, das wurde dann auch weniger", erklärt Stainer-Hämmerle. "Das ergibt sich daraus, dass man die Personen und ihre Programmpunkte dahinter näher kennenlernt und dann vielleicht doch weniger damit anfangen kann."

Innerhalb der SPÖ verbreitet sich eine andere Sichtweise: Die lancierten Gerüchte über eine mögliche linke Gruppierung sollen vor allem nach innen strahlen. "Es ist ein interner Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Parteispitze, dass die Sozialdemokratie klarer Kante zeigen muss", sagt ein Wiener Roter.

In der ÖVP entsteht hingegen der Eindruck, dass die Landeshauptleute reihenweise das sinkende Schiff verlassen: Hermann Schützenhöfer, Günther Platter und Markus Wallner waren allesamt Machtzentren in der ÖVP, die Nehammer unterstützten. Auch in der zweiten und dritten Reihe und in der Mitarbeiterschaft sorgte das Ende der Ära Kurz für einen Exodus. Die ÖVP, die so breit aufgestellt ist, soll sich mittlerweile schwertun, Lücken in Ministerbüros oder der eigenen Bundespartei zu füllen.

Ein Duell zwischen Parteifreunden? Ex-Kanzler Kern bestreitet vehement, an einem eigenen Parteiprojekt zu arbeiten.
Foto: Expa/ Michael Gruber

Und der Druck steigt. In Teilen der ÖVP wird beispielsweise der rechts ausgerichtete Blog von Andreas Unterberger, dem früheren Chefredakteur von Presse und Wiener Zeitung, fast wie eine düstere Prophezeiung gelesen. Er schrieb zuletzt vom "Lemmingmarsch der Volkspartei". "Die Volkspartei ist inhaltsarm, austauschbar und nichtssagend populistisch geworden", urteilt Unterberger. Nehammer sei nicht wirtschaftsliberal, die ÖVP schaue "dem skandalösen Treiben der von ihrem Koalitionspartner geschützten Korruptionsstaatsanwaltschaft regungslos zu".

Die wahre Stimmung in der Koalition lässt sich in wenigen Sätzen schwer zusammenfassen. Es gibt verschiedene Konstellationen, in denen die Zusammenarbeit funktioniert, und andere, in denen es knirscht. Ein immer schon wichtiger, nun aber umso bedeutenderer Stabilitätsfaktor ist die Achse der Klubobleute: jene zwischen August Wöginger (ÖVP), der ein enger Vertrauter des Kanzlers ist, und Sigrid Maurer (Grüne). Auch Kanzler Nehammer und Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler sollen weiterhin eine gute Basis haben. Auf unteren Ebenen hingegen entlädt sich der Frust immer öfter am koalitionären Gegenüber, was sich beispielsweise in parlamentarischen Ausschusssitzungen zeigt.

Faktor Präsidentschaftswahl

Bei den Grünen lautet die Devise: Möglichst oft betonen, dass auf der Sachebene viel gemacht werde – die Pflegereform, die Valorisierung der Sozialleistungen. Wobei Parteistrategen zugeben: Natürlich färbe das Image der ÖVP ab, wenn man bei Pressekonferenzen immer nebeneinanderstehe. Noch dazu müssen die Grünen in energiepolitischen Fragen nun der eigenen Überzeugung widersprechende pragmatische Ansätze vertreten – wie etwa, dass das stillgelegte Kraftwerk Mellach in der Steiermark nun wieder auf Kohle umrüstet. Die Basis verhält sich nach solchen Ankündigungen derzeit relativ ruhig und verständnisvoll. Wählen will in den Entscheiderkreisen beim kleinen Koalitionspartner jedenfalls keiner – solange es sich "irgendwie ausgeht".

Dem Team rund um Bundespräsident Alexander Van der Bellen bereiten die innenpolitischen Entwicklungen ebenfalls Kopfzerbrechen. Die Wahl steht am 9. Oktober an. Es besteht die Sorge, die schlechten Werte der Bundesregierung könnten auf den grundsätzlich beliebten Präsidenten abfärben. Die Wahl werde er schon gewinnen, so die Analyse, aber wenn einer der Außenseiterkandidaten gut abschneide oder den Amtsinhaber sogar in eine Stichwahl zwingen würde, wäre das eine veritable Blamage.

Und dann ist da noch die FPÖ. Die steht unter Parteichef Herbert Kickl in einer Puls-24-Umfrage mittlerweile knapp vor der ÖVP auf Platz zwei. Diese 21 Prozent gilt es bei der Präsidentschaftswahl zumindest zu halten. Die FPÖ wird als einzige etablierte Partei eine Gegenkandidatin oder einen Gegenkandidaten in die Wahl schicken.

Wer es wird, daraus macht Kickl seit Wochen ein großes Geheimnis. Nächste Woche soll es gelüftet werden. In der Poleposition sehen viele in der FPÖ deren Verfassungssprecherin Susanne Fürst. Zuletzt streuten Blaue auch das Gerücht, dass der Rechtsanwalt und Krone-Kolumnist Tassilo Wallentin Chancen habe. Doch für die Freiheitlichen dürfte es ohnehin nicht um die Präsidentschaftskanzlei gehen: Sie wähnen sich in einem Vorwahlkampf gegen eine kriselnde Regierung. (Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, Fabian Schmid, 9.7.2022)