Die Masken der weiblichen Sexualität: Arbeit von Francesca Woodman (1975) aus der Hauptausstellung in Arles.

Foto: Verbund Sammlung

Daten sammeln, sie analysieren und dann richtig laut werden: Das sei ihre Strategie gegen Geschlechterungerechtigkeiten, sagt Marie Docher. Die Pariser Fotografin sitzt in einem Café an der Place du Forum im Zentrum der südfranzösischen Stadt Arles und schaut in die Runde.

Mindestens jede zweite Besucherin an diesem Abend ist eine Frau, und die meisten von ihnen haben irgendetwas mit Fotografie zu tun. Sie stehen hinter der Kamera, managen andere Fotografinnen oder richten Ausstellungen aus. An diesem Morgen startete das weltweit wichtigste Fotofestival "Les recontres d’Arles", Hornbrillenträger mit Jutetaschen bevölkern seitdem die Stadt. Mehr als 40 Ausstellungen haben ihre Pforten geöffnet, der Frauenanteil ist hoch, die wichtigsten Schauen sind diesmal sogar ausschließlich Frauen gewidmet.

Das sei nicht immer so gewesen, sagt Docher. 2018 prangerten sie und ihr Kollektiv LaPartDesFemmes die Leitung des Festivals für den beschämend niedrigen Frauenanteil an. Ein Jahr später sah die Lage schon anders aus. 51 Prozent der Beteiligten beim alljährlich stattfindenden Branchentreff waren Frauen.

Frauen stoßen an gläserne Wände: Ana Mendieta (1972)
Foto: Sammlung Verbund

Drei Jahre und eine Pandemie später wurde das Geschlechterverhältnis noch einmal verschoben. Mittlerweile leitet der Deutsche Christoph Wiesner das Festival, er ist der ehemalige Direktor der weltweit größten Fotomesse Paris Photo. "Wir haben einiges nachzuholen", sagt er bei einem gemeinsamen Mittagessen und schaut dabei Gabriele Schor an, die inmitten einer illustren Künstlerinnenschar sitzt.

Die legendäre Body-Art-Künstlerin Orlan (75) ist aus Paris angereist, Perfomance-Pionierin Martha Wilson (75) aus New York, Karin Mack (82) aus Wien. Sie alle sind Teil der von Schor seit 2004 aufgebauten Kunstsammlung des österreichischen Energiekonzerns Verbund, die sich der feministischen Avantgarde in den 1970ern verschrieben hat und jetzt erstmals in Frankreich gezeigt wird. Schor versucht, die Lücken der Kunstgeschichte zu schließen und weibliche Positionen vor den Vorhang zu holen. Viele der feministisch arbeitenden Künstlerinnen der 1970er-Jahre wurden gar nicht wahrgenommen oder bald wieder vergessen.

"Ich war einfach nicht die Knödelköchin, die sich mein Mann gewünscht hat", sagt etwa Karin Mack. Die kleine, energische Frau steht vor ihrer Fotoarbeit Bügeltraum aus dem Jahre 1976, mit der die heurige Hauptausstellung in Arles unter anderem eröffnet wird. Sie selbst ist in der Serie beim Bügeln zu sehen. Statt Hemden und Schürzen liegt sie auf dem letzten Foto der Reihe selbst auf dem Bügelbrett.

In einer anderen Fotoserie durchbohrt Mack mit Haarnadeln und Krautrouladenspießen eine Fotografie, auf der sie ihr Gesicht an ein Einmachglas schmiegt. Zerstörung einer Illusion nannte die damalige Frau von Friedrich Achleitner, einem Protagonisten der Wiener Gruppe, ihr Werk. Während Achleitner mit seinen Dialektgedichten reüssierte, sah er seine Frau lieber daheim vor dem Herd. "Gegen diese Rollenzuschreibung habe ich rebelliert und griff zur Kamera."

Die Fotografie war für viele Künstlerinnen in Macks Generation das Medium der Stunde. Es war schnell, man arbeitete in Schwarz-Weiß und in Serien, und man konnte damit gut Botschaften transportieren. Vor allem konnte man sich aber von der männlich besetzten Malerei absetzen.

Ausbrüche und Rollenspiele

Auch wenn man nichts voneinander wusste: Die Mittel und Aussagen einer Birgit Jürgenssen in Wien, einer Penny Slinger in London oder einer Cindy Sherman in Buffalo ähneln einander mehr, als sie sich unterscheiden. In fünf Kapiteln erzählt die in Arles gastierende Schau vom Ausbruch aus dem Geschlechtergefängnis, von der Behauptung der eigenen Sexualität und dem lustvollen Spiel mit Rollen.

Allesamt Themen, die in Arles auch an anderen Orten des über die ganze Stadt verteilten Festivals vorkommen. Susan Meiselas und Marta Gentilucci kartografieren in einer kleinen Kirche den alternden weiblichen Körper, Frida Orupabo zeigt auf dem Gelände des Kulturkomplexes Luma mit seinem erst jüngst eröffneten Frank-Gehry-Neubau Collagen schwarzer Frauen.

Noémie Goudals Arbeit "Phoenix" gehört zu den stärksten künstlerischen Arbeiten des Festivals.
Foto: Courtesy of Les Filles du Calvaire gallery and the artist.

Aktuelle Positionen, unter denen etwa jene von Noémie Goudal mit ihren filmischen Eco-Performances (Phoenix) hervorsticht, wechseln sich mit historischen ab: Eine große Schau ist Babette Mangolte gewidmet, die im New York der 1970er und 80er die experimentelle Tanz- und Theaterszene rund um Trisha Brown, Richard Foreman oder Robert Wilson begleitete, eine etwas kleinere Lee Miller. In den 1930ern machte diese mit ihren Mode- und surrealistischen Fotoarbeiten im Umfeld Man Rays Schlagzeilen, später mit ihren Aufnahmen aus den KZs in Dachau und Buchenwald.

Auch Miller wurde erst in den letzten Jahrzehnten in ihrer Bedeutung wiederentdeckt, wie so viele fotografierende Frauen. Publikationen blieben und bleiben vielen von ihnen verwehrt. Nur zwölf Prozent der Fotos in der Libération, sagt Marie Docher, stammten 2020 von Frauen. Sie startete eine Inititiative und siehe da: Plötzlich engagierte die französische Tageszeitung deutlich mehr Fotografinnen. (Stephan Hilpold aus Arles, 11.7.2022)