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Patriotische Melodien, sentimentale Einwanderer-Geschichten, flotte Milliardenrechnereien – während die Briten die heißen Juli-Tage genießen, steigen die Temperaturen im Nachfolge-Kampf um Premier Boris Johnsons Posten. Als Hauptthema schält sich die prekäre Wirtschafts- und Finanzlage des Landes heraus. Vertreter des rechten Flügels in der konservativen Regierungspartei schwärmen von umgehenden Kürzungen der Einkommens- und Unternehmenssteuer. Der derzeitige Favorit seiner Fraktionskollegen, Ex-Finanzminister Rishi Sunak, hält dagegen: "Leute sollten nicht an Märchen glauben."

Rishi Sunak ist derzeit Favorit im Rennen um die Nachfolge von Boris Johnson.
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Die überraschende Nachricht des Wochenendes war weniger die lange Liste von sechs Männern und drei Frauen, die bisher ihre Hüte in den Ring geworfen haben; mindestens eine weitere Frau, die von nicht geringem Ehrgeiz getriebene Außenministerin Liz Truss, wird zu Wochenbeginn auf jeden Fall noch hinzukommen. Unerwartet kam vielmehr der Verzicht von Verteidigungsminister Ben Wallace. Denn das Ansehen des 52-Jährigen ist in den vergangenen Monaten unaufhörlich gestiegen, einer YouGov-Umfage zufolge lag er vergangene Woche in der Gunst der derzeit rund 200.000 Parteimitglieder vorn. Das ist insofern von entscheidender Bedeutung, als nach der Vorauswahl durch die Unterhausfraktion die beiden höchstbewerteten Kandidaten eine Urwahl bestehen müssen.

Andere Prioritäten

Seine Entscheidung sei ihm nicht leichtgefallen, schrieb Wallace auf Twitter. Er wolle sich aber "auf den jetzigen Job und die Sicherheit dieses großartigen Landes" konzentrieren. Ausdrücklich verknüpft der Hauptmann der Reserve die intensive Hilfe Großbritanniens für die Ukraine stets mit der Sicherheit der Insel und des gesamten Westens. Seit dem russischen Überfall hat er auch international an Ansehen gewonnen.

Ob von Wallaces Rückzug ein anderer Ex-Soldat profitiert? Tom Tugendhat, dem Vorsitzenden des auswärtigen Ausschusses, ist "friendly fire" nicht fremd, wie er in Zeitungsinterviews erläuterte: Bei einer Verwundetenbergung im Irak eröffnete der Schütze eines britischen Chinook-Hubschraubers das Feuer auf den Mann, den er für einen feindlichen Krieger hielt – Oberstleutnant Tugendhat hatte sich in Kleidung und Aussehen der örtlichen Bevölkerung angepasst.

Friendly Fire der politischen Art steht dem 49-Jährigen in den nächsten Tagen ebenso bevor wie dem Rest des Feldes. Wer verkörpert am besten jene Stabilität, nach der Partei und Land im Anschluss an Johnsons Chaos-Administration lechzen? Das hübscheste soundbite zu dem Thema hat bisher Penny Mordaunt geliefert, mit einem Wortspiel zum englischen Wort Leadership ("Führung"): In Zukunft müsse es sehr viel weniger um den Anführer (leader) gehen, findet die derzeitige Handelsstaatsekretärin, "dafür sehr viel mehr um das Staatsschiff".

Auch Penny Mordaunt bewirbt sich um den Posten der Premierministerin.
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Inflation auf 40-Jahreshoch

Dass dieses – wie die Weltwirtschaft insgesamt – auf schwierige Gewässer zufährt, betonen Ökonominnen und Ökonomen mit eindrucksvollen Zahlen. Die Inflation liegt auf einem 40-Jahreshoch und soll im Oktober nach Aussage der Bank of England (BoE) elf Prozent erreichen. Sein Haus werde "alles Nötige" tun, um der Teuerung Herr zu werden, hat BoE-Chefvolkswirt Huw Pill angekündigt – ein Denkzettel, falls notwendig, für all jene wie Tugendhat oder den neu gekürten Schatzkanzler Nadhim Zahawi sowie den zurückgetretenen Gesundheitsressortchef Sajid Javid, die durch unmittelbare Senkung der Einkommensteuer die ohnehin zu stark vom Konsum abhängige britische Wirtschaft ankurbeln und damit zusätzliche Inflation verursachen wollen. Weitere Zinserhöhungen wären die Folge, was all jenen Hausbesitzern sauer aufstoßen würde, deren Hypotheken an den Leitzins gekoppelt sind.

Dass alle Kandidaten gleichzeitig die Steuern senken und die Verteidigungsausgaben erhöhen wollen, wird mit abenteuerlichen Milliardenrechnungen gerechtfertigt. Hingegen hält Sunak an seinem Kurs fiskalischer Disziplin fest: Er wolle sowohl die schrittweise Erhöhung der Körperschaftssteuer beibehalten wie auch den Plan, die Einkommensteuer frühestens in zwei Jahren zu senken, sollte sich die wirtschaftliche Lage bis dahin verbessert haben.

Symbol gelungener Integration

Zu recht weisen Kommentatoren darauf hin, dass die Hälfte der Bewerber Kinder von Einwanderern sind oder sogar selbst außerhalb Großbritanniens geboren wurden – schönes Symbol einer Gesellschaft, der die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund vergleichsweise gut gelungen ist. Ein schwarzes oder braunes Gesicht an der Spitze der Tories könnte auch die Wahlarithmetik verändern. Bisher wählten die Angehörigen ethnischer Minderheiten eher die alte Arbeiterpartei Labour.

Am Montag bestimmen die Tory-Hinterbänkler die Zusammensetzung des einflussreichen 1922-Komitees. Anschließend soll der Fahrplan für die Wahl des oder der neuen Parteivorsitzenden bekanntgegeben werden. Die Zeit drängt, weil das Unterhaus in zehn Tagen in die Sommerferien verschwindet. Dementsprechend hoch werden die Hürden liegen, über die Kandidaten springen müssen, um überhaupt am Rennen teilnehmen zu dürfen. Im Lauf dieser Woche dürfte sich das Feld rasch lichten. (Sebastian Borger aus London, 10.7.2022)