Mode war noch nie ein großes Thema: Mick Jagger und Keith Richards von der britischen Rockband The Rolling Stones live während eines Konzert am 7. Juli in Amsterdam.

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Tattergreis

Wenn man die Berichte entzückter Best-Ager über die Konzerte ihrer aktuell nach der Anzahl ihrer Dienstjahre Sixty benannten Tournee liest, befinden sich die Rolling Stones gerade in der Form ihres Lebens. Bissig, angriffslustig – also nix mit tattrig. Die Stones beben vor Energie! Das klingt für Leute, die auf die 80 zugehen, sensationell. Gesundes Essen, gute Ärzte und der Schlaf vor Mitternacht (oder meinetwegen vor Mittag) statt noch im Alter nach den Konzerten herumlumpen und die Drogen auspacken zahlt sich also auch noch für Spätberufene aus.

Jeder Beruf hat natürlich seine Schattenseiten. Nie zu Hause bei den Enkerln ist so ein Beispiel. Oder auch: selten Zeit fürs Garteln. Vielleicht treibt Mick Jagger aber auch nur die Angst vor der Altersarmut in die Sportstadien dieser Welt.

Tournee

Bei dem Begriff klingelt etwas bei den Rolling Stones. Im Laufe ihrer Karriere haben sie laut führenden Rolling-Stones-Statistikern von 1963 herauf bis heute ziemlich genau 57 Tourneen und über 2000 Konzerte absolviert. Außer in Nordkorea, auf den Osterinseln oder in Nuuk, der als Reisedestination wahrscheinlich unterschätzten Hauptstadt von Grönland, waren sie schon überall.

Wer von den österreichischen und deutschen Lesern und Leserinnen die Rolling Stones einmal privat daheim besuchen sollte: Bitte keine Schneekugeln mit dem Stephansdom oder Lebkuchenherzen vom Oktoberfest als Gastgeschenke mitbringen. Dieses Zeug haben sie alles doppelt und dreifach im Keller.

Also, die Rolling Stones waren auf Tournee schon überall, und das drei Mal. Die Frage, die uns also wirklich beschäftigt, ist nicht jene, warum die Rolling Stones noch immer auf Tournee gehen. Das mit der Angst vor der Altersarmut hatten wir schon. Bringen wir noch das Bild vom Zirkuspferd ins Spiel, das die Manege auch nur ungern verlässt, um dann auf einem Gnadenhof die letzten Jahre zu verbringen. Fragen wir uns lieber, welche Lieder die Rolling Stones zum Beispiel jetzt am Freitag in Wien im Ernst-Happel-Stadion spielen werden. Wir sind wirklich schon sehr gespannt.

Die Rolling Stones waren schon einmal da und werden unseretwegen ihre seit mindestens 40 Jahren gelebte Aufführungspraxis bei Tourneen nicht groß umändern. Keine Experimente! A-Quadrat plus B-Quadrat ist gleich C-Quadrat. Satisfaction,Jumpin’ Jack Flash, auf der Straße kämpfende Männer, das Lied mit dem Teufel, du kannst nicht immer kriegen, was du willst, Vorhang. Die bewährte Formel hält auch 2022. Glaubt dem Pythagoras doch einfach, ihr Rotzpipn! Das führt uns jetzt zum nächsten T.

Tumbling Dice

"Mmm, ja! (wuu wuu) / Die Frauen finden mich lecker, aber sie versuchen immer, alles aus mir rauszuholen, und bringen mich dazu, mich zu verausgaben. Aber Baby, Baby, ich muss keine Edelsteine in meiner Krone haben. Denn all ihr Frauen seid niederträchtige Zocker, betrügerisch bis zum Gehtnichtmehr. Aber Baby, Baby, jetzt brennt’s im Hühnerstall!"

Das Lied Kullernde Würfel, enthalten auf dem 1972 erschienenen Doppelalbum Exile on Main St., wurde von Mick Jagger und Keith Richards damals an der Côte d’Azur im zart auf Frauen herabblickenden, tendenziell antifeministischen Stil von wohlstandsverwahrlosten Rockern geschrieben, die als Spargeltarzan einen auf dicke Hose machen. Eigentlich muss man das Lied zumindest aus heutiger Sicht ebenso ablehnen wie Brown Sugar.

Brown Sugar ist mit 1137 Liveinterpretationen in der Statistik der von den Stones meistgespielten Lieder an zweiter Stelle hinter dem Spitzenreiter Jumpin’ Jack Flash gereiht. Der bringt es auf 1189 Aufführungen. Platz drei geht an Honky Tonk Women (1130), Platz vier an Tumbling Dice (1115).

Die rassistische wie abgrundtief blöde Altmänner-Sexfantasie Brown Sugar wird aber im Gegensatz zu den anderen Spitzenreitern heute nicht mehr gespielt. Daheim haben die Enkerln den Opis gesagt: Aufpassen da draußen in der Welt mit dem Woke und so! Das Woke taugt den Leuten heute mehr als der Brown Sugar. Wieso, hat der Keith-Opa gesagt, das ist doch ein super Lied zum Rocken?! Opa, haben die Enkerln gesagt, tu dir selbst einen Gefallen und spiele es einfach nicht!

Topfrische

Das jüngste Lied im nicht gerade vor Überraschungen strotzenden Programm der Tournee 2022 (Miss You,Midnight Rambler,Gimme Shelter,Start Me Up ...) könnte in Wien der erst 2020 veröffentlichte Pandemierocker Living in a Ghost Town sein. Das Publikum in Wien bekommt also möglicherweise erstmals seit Hunderten von Jahren live bei den Rolling Stones ein Lied zu hören, das jünger als der Durchschnitt des Publikums ist!

Teufel

Ein wenig hat es sich schon abgezeichnet. Wir müssen beim Thema Rolling Stones natürlich auch über den Teufel reden. Es ist ja nicht so, dass Mick Jagger und Keith Richards während des Rockens immer nur grausliche sexistische Gedanken gehabt hätten. Versaute sexy Gedanken schon, aber da gehen halt die Meinungen quer durch die Generationen der Fans und der Musiker auseinander.

Sympathy for the Devil zum Beispiel, das wie das Amen im Gebet in Wien gespielt werden wird, weil es sich dabei um eines der wissenschaftlich erwiesen drei oder zehn besten Lieder aller Zeiten handelt, hat spätestens seit dem Krieg in der Ukraine wieder seine aktuelle Bedeutung in den Vordergrund gerückt. Andererseits hat natürlich jede große Kunst ihre aktuelle Bedeutung, sonst wäre sie nämlich eine kleine Kunst. Bei den Rolling Stones hält sich das so wie bei jeder Rockband aus den großen alten Tagen die Waage. Sympathy for the Devil handelt – in dieser Knappheit wie kaum ein anderes künstlerisches Werk der Moderne – in sardonisch dargebrachter Ich-Form vom Bösen in der Welt.

Das Böse in der Welt, das kann man mit einer gewissen Lebenserfahrung und mit Fug und Recht und sich an den Baum der Erkenntnis lehnend behaupten, das Böse in der Welt ist real. Der komplexe, düstere und uns allen am Ende das Höllenfeuer verheißende Samba-Rhythmus ist in der Rockwelt sehr selten anzutreffen. Normal dominiert der Viervierteltakt. Die Stones könnten davon einige Hundert Lieder singen. Das hat mit der weltweiten Dominanz der von den USA geprägten Popkultur zu tun. Walzer und Polkas haben die Stones ja auch wenige im Programm.

Tod

Wo wir gerade von den unangenehmen Sachen reden: Schlagzeuger Charlie Watts ist vorigen August im Alter von 80 Jahren gestorben. Das Ende der Rolling Stones ist also mittelbar abzusehen. Ob es sich heuer um die letzte Tournee handelt, ist unklar. Als würdiger Nachfolger für Charlie Watts konnte mit Steve Jordan ein alter Haberer von Keith Richards gewonnen werden. Mit seinen nur 65 Jahren macht ihm niemand den Status des Bandbabys streitig. Endlich darf Ron Wood, der mit seinen 75 Jahren bislang Jüngste der Stones, erwachsen werden. Na ja. Mick Jagger und Keith Richards sind gerade noch 78 Jahre alt.

Tickets

An den Tod und den Teufel denken auch viele Ticketkäufer. Heuer wurden in Wien die billigsten Ränge für knapp 140 Euro verkauft. Wir erinnern uns, die Angst vor der Altersarmut. 50.000 Leute werden trotzdem kommen. Wie man hört, zählt Mick Jagger nach jedem Konzert höchstpersönlich die Münzen und Scheine, die ihm die Leute in den Hut werfen. Das bringt uns schließlich zu:

T-Shirts

Die Stones vertreiben die hässlichsten T-Shirts im Rockgeschäft. Das seit 1970 bestehende Zungen-Logo wünscht man seinen besten dreihundert Freunden nicht auf die Brust. Leute mit Geschmack, also Frauen, tragen das nicht. Das Shirt mit der "tongue", englisch für "Tsunge", kostet ab 41 Euro aufwärts. Teufel auch, kann man da nur sagen.

(Christian Schachinger, 13.7.2022)