Der jüngste Test der luftgestützten US-Hyperschallrakete "AGM-183A Air-launched Rapid Response Weapon" verlief erfolgreich.

Foto: U.S. Air Force/Giancarlo Casem/Handout via REUTERS

Hyperschallwaffen verbinden die Vorteile und gleichen die Unzulänglichkeiten der zwei Hauptkategorien von Raketen aus: Geschwindigkeit und Manövrierbarkeit. Sie sind schneller als Marschflugkörper (cruise missiles), und ihre Flugbahn ist anders als bei ballistischen Raketen (ballistic missiles) unvorhersehbar, da sie während des Fluges manövrierbar sind. Das macht sie äußerst schwer abzufangen.

Ende Juni nahm sogar die Nato in ihrem neu verabschiedeten strategischen Konzept Bezug auf die russischen Hyperschallwaffen, als sie vor Russlands Modernisierung der Nuklearstreitkräfte und den neuartigen, zweifach verwendbaren Trägersystemen warnte. Moskaus Behauptung, die Kinschal-Rakete im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt zu haben, schürte weltweit Befürchtungen. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, hat das Pentagon sein Budget für das Hyperschallwaffenprogramm für 2023 um mehr als 20 Prozent auf 4,7 Milliarden Dollar erhöht. Kürzlich meldeten die USA nach mehreren Fehlschlägen, dass ein Test der luftgestützten Hyperschallrakete vom Typ "AGM-183A Rapid Response Weapon" (ARRW) des Herstellers Lockheed Martin erfolgreich verlaufen ist.

Die besten Luft- und Raumfahrtingenieure arbeiten im Bereich der Entwicklung von Hyperschallwaffen. DER STANDARD hat sich mit einem von ihnen, dem US-Amerikaner George Nacouzi, unterhalten.

Im Vergleich zu den zwei Hauptkategorien von Raketen – ballistische Raketen einerseits und Marschflugkörper andererseits – kann ein Hyperschall-Gleitflugkörper (hypersonic glide vehicle, HGV), wie in dieser Abbildung dargestellt, seinen Einschlagpunkt und die damit verbundene Flugbahn während seiner gesamten Flugzeit verändern. Außerdem fliegen HGVs in niedrigerer Höhe als ballistische Flugkörper.
Foto: RAND Corporation

STANDARD: Wurden die USA als eine der drei führenden Nationen in der Entwicklung von Hyperschallwaffen schon von Russland und China abgehängt?

Nacouzi: Ja, es scheint so, als ob die USA ein wenig im Rückstand sind, wenn wir alles glauben, was China und Russland über ihre eigenen Programme sagen. Beide Länder geben an, dass sie über einsatzfähige Hyperschallraketen verfügen. Moskau soll sogar Hyperschall-Gleitflugkörper (hypersonic glide vehicles, HGV) mit großer Reichweite haben, was ich allerdings bezweifle. Im Vergleich zu den USA haben Russland und China die Entwicklung dieser Waffen in den letzten Jahren aktiv und mit viel finanziellen Mitteln vorangetrieben. Die von den USA entwickelten Hyperschallwaffen sollen in den nächsten Jahren einsatzfähig sein. Amerika hat hier ein wenig Nachholbedarf, was die Einsatzfähigkeit angeht, aber ich sehe das nicht als ein großes taktisches Problem an.

STANDARD: Warum nicht?

Nacouzi: Die USA haben, so wie Russland und China, eine Menge anderer sehr effektiver Waffen. Vom Standpunkt der strategischen Stabilität aus betrachtet – also was strategische Atomwaffen betrifft – habe ich überhaupt keine Bedenken. Kurzfristig ist das kein Thema. Die gesamte strategische Stabilität basiert schließlich auf Abschreckung. Es wird oft vergessen, dass die Entwicklung von Hyperschallwaffen eine sehr teure und komplexe Angelegenheit ist und viel Forschung sowie Tests erfordert. Von den angeblich eingesetzten Hyperschallwaffen weiß niemand genau, wie effektiv und zuverlässig sie sind. Man investiert also in mehr Präzision. Aber wenn man bereits tausende Raketen besitzt, braucht man keine besonders hohe Präzision. Man muss nur nah genug an das Ziel herankommen.

STANDARD: Bei der Ausstattung mit Windkanälen für Tests von Hyperschallwaffen soll China einen entscheidenden Vorsprung gegenüber den USA haben. Ist das so?

Nacouzi: Ja, da stimme ich zu. China hat in den letzten Jahren erhebliche Investitionen in neue Infrastruktur für Hyperschallwaffentests getätigt. Die Infrastruktur in den USA ist etwas älter, aber es wurden einige Anstrengungen unternommen, um neue Hyperschall-Windkanäle zu entwickeln. Die University of Texas at San Antonio hat vor etwas mehr als einem Jahr einen "Mach 7 Ludwieg Tube" fertiggestellt. Windkanäle sind ziemlich teuer, weshalb man Zeit braucht für die Genehmigung, den Entwurf und den Bau.

Mit Kinschal-Hyperschallraketen ausgestattete MiG-31K-Kampfjets während einer Übung der strategischen Abschreckungskräfte in Russland.
Foto: EPA/RUSSIAN DEFENCE MINISTRY PRESS SERVICE / HANDOUT

STANDARD: Wie schätzen Sie die Kinschal-Hyperschallraketen ein, die von Russland im Ukraine-Krieg eingesetzt werden und ein Raketenarsenal zerstört haben sollen?

Nacouzi: Die Kinschal gehört nicht zu den neuen Hyperschallwaffen, wenn wir die übliche Kategorisierung heranziehen. Es handelt sich weder um einen Hyperschall-Gleitflugkörper (hypersonic glide vehicle), noch um einen Hyperschall-Marschflugkörper (hypersonic cruise missile). Im Grunde genommen hat man eine kleine ballistische Rakete, die Iskander, genommen und sie so modifiziert, dass sie luftgestützt ist. Die Kinschal soll eine Reichweite von bis zu 2.000 Kilometer erzielen können und einen manövrierfähigen Gefechtskopf haben, der mit einem Inertialsensor und einem optischen Sensor ausgestattet ist. Das macht sie zu einer präzisen und wirksamen Waffe. Ich warne davor, sie zu unterschätzen. Die Kinschal kann viel Schaden anrichten, und man kann sich schwer dagegen verteidigen. Wobei das im Grunde für jede ballistische Rakete gilt.

STANDARD: Inwiefern?

Nacouzi: Ich erlebe es oft, dass Leute plötzlich Angst bekommen, wenn sie das Wort Hyperschall nur hören. Meistens ist ihre erste Reaktion dann: "Oh, die haben solche Waffen, und wir können uns nicht einmal dagegen verteidigen." Dabei scheinen sie zu vergessen, dass es bereits jetzt viele Raketen und Waffen gibt, gegen die wir uns nicht verteidigen können. Das trifft auf so gut wie jede ballistische Rakete zu. Wir verfügen nur über begrenzte Fähigkeiten, Raketen – und das ausschließlich in geringer Zahl – abzuwehren. Normalerweise kann jedes Abwehrsystem durch eine höhere Anzahl von Raketen überwältigt werden. Sobald viele Raketen abgefeuert werden, ist das Verteidigungssystem schlichtweg überfordert. Die Raketenabwehr der USA ist ein sehr, sehr begrenztes Abwehrsystem. Es kann vielleicht ein paar Dutzend Raketen aus Russland aufhalten. Aber wir können mit Sicherheit nicht hunderte oder tausende Raketen aufhalten.

STANDARD: Wie groß ist Russlands Arsenal an Hyperschallwaffen?

Nacouzi: Das weiß ich nicht. Es gibt nur Schätzungen. Wenn man ein Urteil fällen müsste, würde ich sagen, dass Moskau nicht viele davon hat, denn sie scheinen sie nicht oft zu verwenden. Und jedes Mal, wenn sie eine einsetzen, hängen sie es an die große Glocke, nach dem Motto: "Wir haben diese Hochpräzisionswaffe." Es gibt Schätzungen, dass Russland bereits mehr als die Hälfte seines Bestands an Präzisionsraketen aufgebraucht hat.

STANDARD: Berichten zufolge bezieht Moskau zahlreiche Komponenten für die eigene Rüstungsindustrie aus dem Ausland. Kann es überhaupt noch Hyperschallwaffen produzieren, wenn man die Sanktionen bedenkt?

Nacouzi: Die Sanktionen wirken sich meiner Meinung nach definitiv auf Russlands Rüstungsindustrie aus. Offenbar ist Moskau auf den Import vieler wesentlicher Komponenten angewiesen: Halbleiter, Sensoren und Navigationssysteme zum Beispiel. Was die Elektronik betrifft, ist der Westen tendenziell fortschrittlicher. Solange die bereits verhängten Sanktionen weiter aufrechterhalten oder gar verschärft werden, wird Moskau es schwer haben, einige seiner modernen Waffen zu produzieren. Falls sie versuchen, Komponenten aus China zu beziehen, müssten sie die Hyperschallwaffen bis zu einem gewissen Grad umkonstruieren. Russland wird also mehr Zeit aufwenden müssen, um nachzurüsten. (Kiyoko Metzler, 27.7.2022)