Befürworter der neuen Verfassung werben für ein Ja beim Referendum im September.

Foto: EPA / Alberto Valdes

Auf dem Siedepunkt der Proteste in Chile im Herbst 2019 brachte die Vereinbarung über eine neue Verfassung den Ausweg aus der Eskalation. Vorige Woche legte der Verfassungskonvent nach zehnmonatiger Arbeit den Entwurf des neuen Grundgesetzes vor, der Chile auf ein neues, modernes Fundament stellen und die noch unter Diktator Augusto Pinochet verabschiedete Verfassung von 1980 ersetzen soll. Am 4. September müssen die Chileninnen und Chilenen darüber abstimmen. Doch der Enthusiasmus ist abgeflaut, und die Kampagne zum "ja" oder "nein" wird emotional geführt. Selbst Fachleute haben einiges an dem Entwurf auszusetzen, der von politisch und juristisch unbeleckten Laien verfasst wurde.

Sechs grundlegende Neuerungen bringt die Verfassung: Chile wird darin zum plurinationalen und interkulturellen Staat, was den Forderungen der indigenen Völker nach Anerkennung und Autonomie nachkommt. Elf indigene Völker leben in Chile und stellen 12,8% der 19 Millionen Einwohner. Alle Staatsorgane müssen fortan paritätisch besetzt werden, Frauen wird ein Recht auf Abtreibung garantiert. Neben dem demokratisch gewählten Parlament soll es fortan statt des bisherigen elitären Oberhauses eine Art Bundesrat geben, in dem die Regionen vertreten sind. Damit wird einer der zentralistischsten Staaten Lateinamerikas föderaler.

Natur im Verfassungsrang

Die Natur erhält Verfassungsrang, was ein Gegengewicht zur vorherigen Privatisierung der Ressourcen und ihrer Überausbeutung darstellt. Wasser wird "unverkäuflich" – die rechtliche Reichweite ist jedoch unklar. Die Rolle der Exekutive im internen Machtgleichgewicht wird beschnitten, Chile verwandelt sich in ein semipräsidiales und partizipatives System, in dem auch die Bevölkerung das Recht bekommt, Gesetzesinitiativen einzubringen.

Gleichzeitig werden die Kompetenzen des Staates ausgeweitet. Er wird zum Hauptakteur in Bildung, Gesundheit und Sozialversicherungen, die bislang weitgehend privatisiert waren, was die soziale Ungleichheit vertiefte. Ein Vorschlag zur Verstaatlichung der Bodenschätze fand nicht die nötige Zweidrittelmehrheit im Plenum und blieb außen vor. "In der Verfassung von 1980 hatte der Staat nur eine untergeordnete Rolle gegenüber der Privatwirtschaft, nun bekommt er eine viel aktivere Rolle", resümiert Javier Sajuria, Direktor des Forschungszentrums Espacio Público.

Konzentration aufs Grundlegende

Einer guten Verfassung gelingt es, den Zeitgeist einzufangen, aus ihm das Grundlegende herauszukristallisieren und alles Überflüssige wegzuschlagen – wie ein Bildhauer einen groben Stein in ein Kunstwerk verwandelt. Das ist in Chile augenscheinlich nicht gelungen. 388 Artikel plus 57 Übergangsartikel hat der Text und ist damit eine der längsten Verfassungen der Welt. Es liest sich stellenweise konfus und hölzern, vieles wird der Justiz überlassen oder soll in neuen Gesetzen geregelt werden. Der Mangel an Stringenz birgt die Gefahr, mehr Konflikte als Klarheit zu bringen.

Die "Washington Post" sprach von einem Manifest der "Generation woke", die geprägt ist von einem starken Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz. Mit dem erst 36 Jahre alten Gabriel Boric hätten die Chilenen zwar einen Präsidenten dieser Generation gewählt – aber werden sie ihm auch in diesem Punkt folgen? fragten die Journalisten. Nimmt man Umfragen, dann lautet die Antwort der eher als konservativ geltenden chilenischen Gesellschaft "nein". Rund die Hälfte wollen derzeitigen Zahlen zufolge dagegen stimmen, 38 Prozent dafür, der Rest ist unentschlossen. Bei den vorherigen Wahlen waren die Umfragen allerdings ungenau.

Unterschiedliche Einschätzungen

Konservative und Liberale wie der Kommentator Patricio Nava bemängeln, Umweltschützer und Indigene bekämen fortan ein Vetorecht, um Investitionen zu verhindern. Der Entwurf sei ein haushaltspolitisch verantwortungsloser Wunschzettel, der den Staat in die Verschuldung treibe. Der Universitätsprofessor und Klimaexperte Marcelo Mena sprach dagegen von einem Modell der nachhaltigen Entwicklung, das Rechtsgeschichte schreibe. Für den Juristen und Rechtsprofessor Javier Couso bekommen die indigenen Minderheiten endlich die Anerkennung, die ihnen über Jahrhunderte verwehrt wurde.

Die Ratingagentur Morgan Stanley kam zu dem Schluss, der Entwurf sei nicht so radikal wie befürchtet, und es sei für die Stabilität Chiles besser, die Verfassung würde angenommen. Die christdemokratische Partei sprach sich in einer internen Abstimmung für den Entwurf aus. Das konservativ-rechte Parteienbündnis Chile Vamos ist dagegen.

Präsidiale Zurückhaltung

Für den erst wenige Monate regierenden Präsidenten ist es eine unangenehme Situation. Er ist ein klarer Befürworter, darf sich jedoch nicht aktiv in die Kampagne einmischen und sein politisches Schicksal nicht vom Plebiszit abhängig machen. "Im September wird nicht über meine Regierung abgestimmt, sondern über Chiles Zukunft", sagte er und riet den Wählerinnen und Wählern, sich gut zu informieren, statt realitätsfernen Katastrophenszenarien Glauben zu schenken.

Wird die Verfassung angenommen, dann werden zahlreiche neue Gesetze und Institutionen nötig – ein Prozess, der Jahre dauern dürfte und in dem zahlreiche Stolpersteine lauern. Wird sie abgelehnt, bleibt die alte Verfassung gültig, die selbst konservative Chilenen für "nicht mehr zeitgemäß" halten. Chiles sozialistischer Ex-Präsident Ricardo Lagos skizzierte bereits den Ausweg: "Keine der beiden Optionen generiert Konsens", erklärte er. Daher müsse die Verfassungsdebatte weitergehen – und zwar ausgehend vom siegreichen Text –, bis durch Reformen ein Text entstehe, mit dem sich die Mehrheit identifiziere, twitterte er. (Sandra Weiss, 14.7.2022)