Der Buntspecht ist in Wien leicht zu finden. Doch wie entgeht er beim Klopfen einer Gehirnerschütterung?

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Wien ist dank seiner zahlreichen Grünanlagen sowie der Nähe zum Wienerwald und zu den Donau-Auen eine wahre Spechthauptstadt. Wie Beobachtungen der Vogelschutzorganisation Birdlife zeigen, brüten neun der zehn europäischen Spechtarten innerhalb der Stadtgrenzen. Angesichts dieser Spechtpopulation ist es kein Wunder, dass den Wienerinnen und Wienern das Klopfen der gefiederten Presslufthämmer ein vertrautes Geräusch ist.

Spechte klopfen aus verschiedenen Gründen: Mit ihrem meißelartigen Schnabel brechen sie Baumrinden auf, um nach Futterinsekten zu suchen, und stemmen Nisthöhlen in Baumstämme. Auf besonders klingenden Stämmen dient das Hämmern auch zur Partnersuche. Im Laufe eines Spechttages klopfen die Vögel mehr als 10.000-mal mit voller Wucht gegen Holz. Kurz vor dem Aufprall erreichen ihre Köpfchen dabei Geschwindigkeiten von bis zu 25 Stundenkilometern. Für Menschen gilt: Bitte nicht nachmachen.

Klopfen ohne Stoßdämpfer

Schon ein Bruchteil der Kraft, die beim Aufprall wirkt, würde ausreichen, um beim Menschen eine Gehirnerschütterung auszulösen. Dennoch scheinen die unzähligen Erschütterungen dem Gehirn der Spechte nicht zuzusetzen. Als Erklärung vermuteten Wissenschafter lange, dass die Schädel der Vögel wie stoßdämpfende Helme funktionieren. Forscherinnen und Forscher der Universität Antwerpen räumen nun mit dieser Vorstellung auf.

Spechte klopfen unter anderem, um Höhlen für die Brutpflege zu bauen. Hier füttert ein Schwarzspecht sein Junges.
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"Durch Zeitlupenaufnahmen dreier Spechtarten fanden wir heraus, dass Spechte den Schock des Aufpralls nicht absorbieren", sagt Sam Van Wassenbergh, Mitautor der neuen Studie. Mithilfe der Videos konnten die Forscher erstmals die genauen Beschleunigungen berechnen, die auf den Spechtschädel wirken. Die daraus entwickelten biochemischen Modelle zeigen, dass die Köpfe keine dämpfenden Helme sind, sondern steife Hämmer. Doch wie überstehen Spechte ihr Klopfen ohne Stoßdämpfer?

Schützendes Spatzenhirn

Das Geheimnis liegt im Gehirn, besser gesagt in seiner Masse. Während die beim Klopfen auftretenden Beschleunigungen bei Affen- oder Menschenhirnen Gehirnerschütterungen auslösen würden, ist das Spechthirn leicht genug, dass es diesem Schicksal entgeht: Aufgrund seiner geringen Masse besitzt es nur wenig Bewegungsenergie, wenn es innen auf den Schädel knallt. Somit kann der Aufprall keine Schäden auslösen. Die gleiche Physik schützt Ameisen, die vom Esstisch fallen: Trotz der für sie großen Fallhöhe bleiben die Insekten unversehrt.

Die Erschütterung des Aufpralls wird also nicht im Schädel gedämpft, was für die Gehirne der Vögel aber kein Problem darstellt. Tatsächlich absorbieren dicke Halsmuskeln und der Körper der Spechte den Großteil des Stoßes. Die Ergebnisse der niederländischen Forscher könnten auch erklären, warum es keine Spechte mit größeren Schädeln gibt. Die großköpfigen Vögel hätten zwar mehr Wucht – ihre Hirne wären dann aber so schwer, dass sie Schäden davontragen würden.

"Den Mythos der stoßdämpfenden Schädel konnten wir entkräften", so Van Wassenbergh. Diese Einsicht hat auch Auswirkungen auf die Bionik: Projekte, die Schutzhelme und Stoßdämpfer nach Vorbild der Spechte entwickeln, erscheinen jetzt nicht mehr zielführend. (Dorian Schiffer, 14.7.2022)