Bei menschlichen Chromosomen gibt es neben den 44 Autosomen ein großes X- und ein kleines Y-Chromosom – die meisten Frauen haben zwei X-Chromosomen, die meisten Männer ein X- und ein Y-Chromosom.
Foto: Hesed Padilla-Nash, Thomas Ried/National Cancer Institute/National Institutes of Health via AP

Das Y-Chromosom ist – trotz des Patriarchats – eigentlich ein unauffälliger Geselle. Es ist klein und trägt weniger Information als alle anderen Chromosomen im menschlichen Genom, manche bezeichnen es als "genetisches Ödland". Seit einigen Jahren ist in Fachkreisen sogar bekannt, dass es mit der Zeit verschwinden kann. Das mag erschreckend klingen, betrifft allerdings vor allem blutbildende Zellen: Es handelt sich um die häufigste Mutation bei erwachsenen Männern (die meisten Frauen haben kein Y-, sondern ein zusätzliches X-Chromosom).

Ungefähr 40 bis 50 Prozent der 70-jährigen Männer sind von dieser Mutation in einigen Blutstammzellen betroffen. Der Verlust des Y-Chromosoms dürfte dabei alles andere als harmlos sein: Die Mutation kann einhergehen mit Krankheiten wie Krebs, Alzheimer, Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie kann auch ein wichtiges Puzzleteil der Gründe liefern, weshalb Männer im Durchschnitt trotz guter Bedingungen eine kürzere Lebenserwartung haben als Frauen. Eine neue Studie im Fachjournal "Science" bringt wichtige Erkenntnisse, wie es dazu kommt.

Mosaik mit Y-Chromosom

Um das zu verstehen, lohnt sich ein genauerer Blick auf das verschwindende Chromosom. Es geht nämlich nicht in allen Blutstammzellen zurück: Manche verlieren das Y-Chromosom, manche nicht – das heißt, es bildet sich in dieser Hinsicht ein Mosaik verschiedener Konstellationen. Deshalb wird das Phänomen auch mLOY genannt, "mosaic loss of Y chromosome" oder Mosaikverlust des Y-Chromosoms. Je älter eine Person wird, desto größer kann auch ihr Anteil an weißen Blutkörperchen werden, auch das Rauchen sorgt für einen Anstieg.

Das internationale Forschungsteam um Soichi Sano (Medizinische Universitäten Osaka und Virginia/USA) wertete Daten der britischen Biobank von mehr als 220.000 Männern über 50 Jahren aus und stellte dabei fest: Wenn 40 Prozent der Blutstammzellen ihr Y-Chromosom verloren haben, dann stieg das Sterblichkeitsrisiko der Betroffenen in den sieben Jahren nach der Messung um 41 Prozent. Ein beachtlicher Teil.

Nur durch Genschere CRISPR/Cas9 möglich

Die Studie lieferte aber noch eine wesentliche Erkenntnis: Erstmals konnten die Forschenden nämlich einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Chromosomenverlust und den Symptomen feststellen, zumindest im Mausmodell. Die bisher nur vermutete Verbindung, dass der Verlust des Y-Chromosoms zu problematischen Vorgängen im Körper führt, wurde experimentell bestätigt. "Das klingt einfach, ist aber in der Tat sehr aufwendig und kompliziert", sagt Hartmut Geiger, Direktor des Instituts für molekulare Medizin an der Universität Ulm, der selbst nicht an der Studie beteiligt war. Der Nachweis sei in der Studie "nur mit neuesten Methoden wie CRISPR/Cas möglich" gewesen.

Das Forschungsteam hat dafür Mäuse gezüchtet, die durchschnittlich etwa 65 Prozent ihrer Y-Chromosomen verloren hatten, also eine entsprechende "Mosaikform" zeigten. Das Team nahm in ihrem Blut bestimmte weiße Blutkörperchen unter die Lupe, sogenannte Fresszellen, die sich aus den Blutstammzellen bilden. Auch ihnen fehlte das Y-Chromosom.

Risiko für Herzschwäche

Nun geht es etwas tiefer in die Molekularbiologie: Die Forschenden konnten feststellen, dass diese Fresszellen einen Wachstumsfaktor namens TGFβ1 im Herzgewebe aktivierten. Mit dem aktivierten Faktor stieg allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass das Bindegewebe dort zu wuchern begann. Das heißt, es entstand viel eher eine Fibrose.

Die Darstellung verdeutlicht, dass die weißen Blutkörperchen von Männern im Alter zunehmend ihr Y-Chromosom verlieren.
Illustration: Katriel E. Cho

Dieser Umbau des Bindegewebes schwächt die Muskelzellen im Herz und macht es steifer, erklärt Andreas Zeiher vom Universitätsklinikum Frankfurt, der einen begleitenden Kommentar zur Studie verfasste. In der Folge fülle sich das Herz "schlechter mit Blut, was die Herzschwäche noch weiter verstärkt". Wie die Auswertung der Patientendaten zeige, sterben Männer um 31 Prozent öfter an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wenn mehr als 40 Prozent der weißen Blutkörperchen ihr Y verloren haben. Dieses Risiko sei also "vergleichbar mit den klassischen Risikofaktoren Diabetes oder Erhöhung der Blutfette".

Von der Maus auf den Menschen übertragbar

Obwohl noch nicht geklärt ist, welcher Teil des Y-Chromosoms nun genau verhindert, dass der Faktor durch Fresszellen aktiviert wird und so krankhafte Veränderungen entstehen können, ist die Erkenntnis sehr wichtig. Sie kann Therapieanstöße geben – etwa über passende Antikörper, die den Wachstumsfaktor neutralisieren, auch wenn immer mehr Y-Chromosomen fehlen. Medikamente, die gegen Fibrosen wirken, werden derzeit bereits klinisch auf ihre Wirkung und Verträglichkeit getestet.

Ganz eindeutig ist zwar noch nicht, dass der Mechanismus genauso wie bei Mäusen auch bei Menschen abläuft. Elisabeth Zeisberg von der Universitätsmedizin Göttingen, die nicht an der Studie beteiligt war, zeigt sich jedoch optimistisch: Da es bereits mehrere Studien gebe, die eine Assoziation des mLOY-Phänomens mit erhöhter Sterblichkeit und insbesondere Herz-Kreislauf-Krankheiten zeigen, sei es "wahrscheinlich, dass die neuen Daten, die in der Maus erhoben wurden, auch auf den Menschen übertragbar sind".

Lebenserwartung von Männern steigern

Hierbei eröffnet sich auch die Frage, welchen Einfluss Chromosomenverluste generell bei Stammzellen haben. Blutzellen können immerhin auch an anderen Organen zu Fibrosen führen, etwa an Lunge und Nieren, sagt Kardiologe Zeiher. Altersforscher Geiger gibt zu bedenken, dass bei Blutzellen bereits bekannt ist, wie stark sie sich mit dem Alter verändern können: Auch anderen Chromosomen können dabei Teile abhandenkommen, oder sie können sich "verschieben". Vor allem außerhalb des Blutsystems gebe es in dieser Hinsicht aber noch viel zu erforschen.

Zeisberg, Spezialistin für das Bindegewebe des Herzens, wirft eine weitere offene Frage auf: "Was ist mit Frauen? Wenn nur der Verlust, nicht aber das primäre Fehlen des Y-Chromosoms einen Krankheitswert hat, dann würde dies bedeuten, dass der Entzug des Y-Chromosoms ein Problem darstellt, das primäre Fehlen eines Y-Chromosoms aber nicht." Wie sich die Lage mit zwei X-Chromosomen gestaltet, dürfte auch weitere Hinweise auf mögliche Therapien liefern – und womöglich dazu beitragen, dass sich die Lebenserwartung von Männern steigern lässt. (Julia Sica, 15.7.2022)