Die Kandidatinnen und Kandidaten der Tories zeigen sich sehr divers.

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Der 47-jährige Sunder Katwala ist Direktor der Gedankenfabrik "British Future".

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DER STANDARD: Sechs der insgesamt ursprünglich elf Kandidaten für das Amt des Premierministers gehören ethnischen Minderheiten an. Wie erklären Sie sich das?

Sunder Katwala: Von außen betrachtet zeugt das von einem wirklich erstaunlichen Selbstwertgefühl. Denn die Tories haben unter ihren 358 Abgeordneten gerade mal 21 Nichtweiße. Beinahe ein Drittel davon hält sich also für fähig, Premierminister zu sein. Die Hautfarbe ist in der britischen Gesellschaft insgesamt weniger von Nachteil als je zuvor. Bei den Konservativen scheint sie geradezu von Vorteil zu sein.

DER STANDARD: Der bisherige Favorit, Ex-Finanzminister Rishi Sunak, kam als Sohn indischer Einwanderer auf die Insel.

Katwala: Und ging hier auf die teure und berühmte Privatschule Winchester, anschließend nach Oxford, arbeitete für Goldman Sachs, wurde Millionär. Also eine klassische Oberschichtkarriere. Abgesehen von der Hautfarbe sieht sein Lebenslauf aus wie der des früheren langjährigen Finanzministers George Osborne oder vergleichbarer weißer Politiker.

DER STANDARD: Bereits zu Beginn des Rennens hatten Kandidaten mit Migrationsbiographie starken Zulauf. Woran liegt das?

Katwala: Die Konservativen wären, sowohl auf der Ebene der Mitglieder wie in der Parlamentsfraktion, richtig glücklich, wenn sie als erste britische Partei einen nichtweißen Vorsitzenden hätten. Das würde nämlich das Narrativ ihrer Geschichte stärken: 'Seht her, wir waren immer die Ersten.' Der erste Premierminister mit jüdischen Wurzeln, das war Disraeli im 19. Jahrhundert. Die erste Frau in der Downing Street: Margaret Thatcher.

Und nun also womöglich die oder der erste Angehörige einer ethnischen Minderheit. Die Tories lieben diese Geschichte, und man muss ja auch sagen: Sie stimmt.

DER STANDARD: Hat es auch wahltaktische Gründe?

Katwala: Wählen Nichtweiße eher die Konservativen, sobald sie sich in deren Vertretern wiedererkennen? Die Statistik spricht nicht dafür. Bis heute ist eine nichtweiße Hautfarbe der wichtigste Indikator dafür, nicht das Kreuz bei den Tories zu machen.

DER STANDARD: Die ethnische Zugehörigkeit spielt eine größere Rolle als Geschlecht, Region, soziale Schicht?

Katwala: So ist es. Der frühere Parteichef David Cameron nahm dieses Problem sehr ernst. Als er 2005 ins Amt kam, hatten die Tories gerade mal je einen Schwarzen und einen asiatisch gelesenen Abgeordneten in ihrer 198-köpfigen Parlamentsfraktion. Er ermöglichte Menschen anderer Hautfarbe die Kandidatur in aussichtsreichen Wahlkreisen.

Und siehe da: Nicht nur wurden diese Leute von den örtlichen Konservativen ausgewählt, sondern die Wählerschaft verhielt sich ebenfalls farbenblind. Die Konservativen gehören in dieser Hinsicht zu den besonders progressiven britischen Institutionen. Zusätzliche Wählerstimmen bringt es aber nicht.

DER STANDARD: Ein prominenter Londoner Anwalt fragte dieser Tage an Rishi Sunak gerichtet: 'Ist das Land bereit, einen Braunen zu wählen?' Sie haben sehr unwillig reagiert.

Katwala: Na ja, weil da liberale Großstädter den Wählern Rassismus unterstellen, den es erwiesenermaßen schon seit längerem nicht gibt. Oder genauer gesagt: Es gibt natürlich Rassisten, aber sie fallen nicht ins Gewicht. Als die Tories vor 30 Jahren mit einem schwarzen Kandidaten den Wahlkreis Cheltenham verloren, behaupteten alle: Das lag am Rassismus in diesem beinahe gänzlich weißen Bezirk.

Dabei fiel der Kandidat lediglich dem Trend zum Opfer: In West-England mussten die Tories damals mehrere Sitze an die Liberaldemokraten abgeben. Cheltenham war ebenfalls ein Wackel-Wahlkreis. Die Hautfarbe spielte schon damals eine unbedeutende Rolle.

DER STANDARD: Stellt dieser offenkundige Fortschritt in der Anerkennung nichtweißer Politikerinnen bei den Tories ein Problem dar für die Opposition?

Katwala: Labour ist europaweit führend, was die Anzahl nichtweißer Parlamentarier angeht. In der derzeit 200-köpfigen Unterhausfraktion sind es 40 Menschen, also 20 Prozent, was genau dem Mitgliederanteil entspricht.

DER STANDARD: Aber nur ein einziges Mal bewarb sich eine Schwarze um den Parteivorsitz: Diane Abbott 2010 als Zählkandidatin der harten Linken.

Katwala: Da gibt es bestimmt Hemmungen, weil die meisten ethnischen Labour-Abgeordneten großstädtische Wahlkreise, vor allem in London, vertreten. Die Befürchtung lautet: Man wird noch mehr als Londoner Partei wahrgenommen. Wahrscheinlich muss Labour es erst mal schaffen, eine Frau zur Chefin zu machen, ehe Nichtweiße zum Zug kommen. Immerhin hat die Labour-Party in Schottland Anas Sarwar zum Regionalvorsitzenden gewählt und in London Sadiq Khan ins Bürgermeisteramt gehievt. Beide sind pakistanstämmige Muslime.

DER STANDARD: Und wie ist die Lage bei den Liberaldemokraten?

Katwala: Nicht gut. 2015 bestand ihre Fraktion aus acht weißen Männern. Inzwischen sind es fünf Männer und neun Frauen, von denen zwei zu ethnischen Minderheiten zählen. Die Lib-Dems reden dauernd davon, die Einstellung ihrer Basis müsse sich wandeln, weil dort die Kandidaten bestimmt werden. Camerons Beispiel aber zeigt: Der Wandel muss von oben kommen. (Sebastian Borger aus London, 15.7.2022)