Ein Paar zwischen Liebe und Tod: Lars Eidinger als Jedermann und Verena Altenberger als Buhlschaft.
Foto: APA / Barbara Gindl, Regine Hendrich

Ab Montag ist auf dem Salzburger Domplatz wieder Hugo von Hofmannsthals Jedermann zu sehen. Zum zweiten Mal schlüpfen Lars Eidinger und Verena Altenberger im "Spiel vom Sterben des reichen Mannes" in die Rollen von Titelfigur und Buhlschaft. Michael Bünker, bis 2019 Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich, über die Theologie im Stück, Kapitalismus, die Geschichte der Evangelischen mit Salzburg und einen nonbinären Jedermann.

STANDARD: Was fangen wir heute noch mit dem "Jedermann" an?

Bünker: Einerseits gibt es eine Ablehnung des Stücks, was den Inhalt und seine Sprache angeht. Auf der anderen Seite steht die ungebrochene Attraktivität der Aufführungen.

STANDARD: Was macht diese aus?

Bünker: Es ist etwas Folkloristisches, Touristisches. Als ich den Jedermann gesehen habe, bekamen wir die Karten nur im Arrangement mit einer weiteren Vorstellung mit Übernachtung. Das ist hochgradig kommerzialisiert. Im Gegensatz zur Entstehungszeit, als der Erlös wohltätigen Zwecken zugeführt wurde.

STANDARD: Versuche, den "Jedermann" zu reformieren, scheitern regelmäßig. Er steht erratisch in einer Theaterlandschaft, die es sonst ganz gut versteht, alte Texte zeitgemäß zu betrachten ...

Bünker: Es ist hochgradig moralisierend und das in einer Weise, wie es für einen Evangelischen manchmal schwer auszuhalten ist: die Angst vor dem Tod, vor dem Jüngsten Gericht, all die Dinge, von denen man glaubt, sie seien längst überwunden. Hinzu kommt: Ein evangelischer Platz ist der Domplatz in der Geschichte Salzburgs natürlich nicht. Das wäre eher die Festung, wo die Protestanten 1731 inhaftiert waren, bevor sie aus dem Land verjagt wurden. Das gibt der Sache noch einmal eine besondere Note.

STANDARD: Lassen sich noch irgendwelche "Lehren ausspüren", wie der Spielansager zu Beginn fordert?

Bünker: Die Kritik am "reichen Mann" im Stück ist eine rein individuelle, moralisierende, die überhaupt nicht mehr berücksichtigt, was die Urfassungen des Jedermann-Stoffs, entstanden in der Zeit eines beginnenden Frühkapitalismus, über ihre Epoche aussagen.

STANDARD: Man könnte glauben, so ein Stoff könnte in Zeiten wachsender Ungleichheit an Aktualität gewinnen. Aber eine messianische Sehnsucht nach Gerechtigkeit durchweht diesen Text nicht gerade.

Bünker: Es geht eher um Selbstgerechtigkeit. Jedermann will sein Leben gerechtfertigt sehen, weitergehende Zusammenhänge interessieren ihn wenig. Aber es gibt eine spannende Stelle, die Begegnung mit dem Mammon. Jedermann glaubt, was in der Truhe liegt, wäre ihm zu Diensten. Doch: "Nicht ich bin dein Knecht, du bist der meine." Das spiegelt noch etwas von der Wahrnehmung des beginnenden Frühkapitalismus wider und wahrscheinlich auch die Zeit um 1900.

STANDARD: Hofmannsthal hadert mit der Abstraktion des Geldes.

Bünker: Marx sagt, zum Mammon wird das Geld, wo es beginnt, sich selbst zu vermehren. Das ist im heutigen Finanzkapitalismus und der Krise, in die er uns seit 2008 gestürzt hat, auf die Spitze getrieben.

STANDARD: Wann wird Reichtum sündhaft?

Bünker: Clemens von Alexandria (ca. 150–215 n. Chr.) fragt: Welcher Reiche wird gerettet werden? Die Antwort ist: keiner. Reichtum ist immer ererbtes Raubgut oder selbstgeraubtes Gut. Man kann sich nur befreien von dieser Sündenlast, indem man das Vermögen, das man hat, für Gutes einsetzt. Aber was bedeutet das? Mich beeindruckt heute etwa die "Tax us now"-Bewegung von Millionären und Milliardären, die Vermögens-, Erbschafts- und Börsentransaktionssteuern fordern. Das wäre eine schöne Lehre aus dem Jedermann: Alle, die die Vorstellung besucht haben, treten danach für Vermögenssteuern ein.

STANDARD: Man muss "Jedermann" wohl für jedes Jahrzehnt neu lesen. Es wirkt fast wie eine treffliche Komödie, wie sich doch alles so wundersam zum Guten fügt …

Bünker: Hofmannsthal wollte ja zunächst eine Prosakomödie schreiben. Jedermanns Bekehrung ist fast schon eine Persiflage.

STANDARD: "Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?" – auf die Frage, die Reformator Martin Luther so gequält hat, gibt das Stück keine Antwort?

Bünker: Nein. Jedermann weiß, er bekommt den gnädigen Gott durch Unterwerfung. Aber das ist nicht die Frage Luthers. Die Guten Werke würden im Jedermann alleine genügen, wären sie nicht so schwach. Der Glaube tritt hinzu. Das ist diametral verschieden zu dem, was Luther und die Reformation wollten.

STANDARD: Was wäre seine Forderung an Jedermann?

Bünker: Der Reiche muss mit seinem Vermögen verantwortungsvoll umgehen, es gehört nicht ihm allein. Er soll es nicht aus Angst und Zwang tun, sondern im Vertrauen und in Dankbarkeit dafür, von der Gnade Gottes gerechtfertigt zu sein. Wie weit sich das leben lässt, ist eine andere Frage. Aber gute Werke tut man mit Lust, Jedermann tut sie mit Widerwillen. Er geht den Weg der moralischen Perfektion. Da die schwer möglich ist, rettet man sich in die Arme der Kirche, der Reue.

STANDARD: Wie entschieden würde Ihnen ein katholischer Kollege jetzt widersprechen?

Bünker: Es gibt etwas, worin wir uns deutlich unterscheiden. Für beide ist klar, der Weg in den Himmel, wenn man so will, die Rechtfertigung des Menschen geschieht allein aus Gnade. Man kann sich’s nicht erwirtschaften, man kann sich’s nicht verdienen. Es wird geschenkt. Für die Evangelischen heißt das, dieses verwirklichst du im Leben einzig durch den Glauben. Dieses "sola fide" hat das Konzil von Trient (1545–63) verurteilt. So wird der Glaube im Stück zu einer Art Hilfskrankenschwester für die schwachen Werke. Es ist auch interessant, dass der Jedermann-Stoff um 1600 für Jahrhunderte wieder verschwindet. Man vermutet, dass der Einfluss des reformatorischen Denkens ihm den Boden entzogen hat.

STANDARD: Hat das angstbesetzte Konzept eines Jüngsten Gerichts heute noch irgendeine Bedeutung für Menschen, die mit dem Tod konfrontiert sind?

Bünker: Das hat wenig Plausibilität heutzutage. Wir haben diese jenseitige Rechtfertigungsinstanz ins Diesseits verlagert, das einmalige Ereignis eines Jüngsten Gerichts in einen Dauerzustand der Selbstperfektion verwandelt. Andererseits stellt sich die Frage der Rechtfertigung dramatisch zugespitzt als innerweltliche Verantwortung – kommenden Generationen gegenüber, der Natur und den vom Aussterben bedrohten Arten.

STANDARD: Was ist eigentlich mit der Buhlschaft?

Bünker: Die Buhlschaft steht wohl für einen innerweltlichen Hedonismus. Aber man müsste noch einmal genau lesen, ob es nicht Sätze gibt, die dem auch entgegenstehen. Die Frauen im Jedermann sind ein eigenes Kapitel. Außer der Buhlschaft bleiben die Mutter, die Guten Werke, der Glaube. In diesem Jahr spielt Edith Clever immerhin den Tod. Das erweitert ein wenig das Spektrum dessen, was man Frauen als Rollen traditionell zuschreibt.

STANDARD: Der "Jedermann" bleibt eine binäre, heteronormative Angelegenheit?

Bünker: Man könnte ihn zum Beispiel divers besetzen. Man könnte ihn auch nichtbinär besetzen und die Göttin auftreten lassen. Aber das wäre in Salzburg wahrscheinlich das Ende vom Jedermann. (INTERVIEW: Uwe Mattheiß, 17.7.2022)