Sir Mick of England am Mikrofon, Keith Richards an der Gitarre? Das können nur die Rolling Stones sein.

Foto: APA / Klaus Techt

Mick Jagger ist ein Mann der Ausschweifung. Sex, Drogen, Rock’n’Roll – nichts davon hat er erfunden, doch wenige haben so viel davon gekostet wie er. Bis heute. Stelze, Dosenbier, Sachertorte, Apfelstrudel, wie er zwischen zwei Songs als Mahnung an die Jugend gestand, hat er sich am Tag vor dem Auftritt in die Venen geschossen, als er auf der Suche nach Stoff durchs Ghetto rund ums Hotel Sacher gezogen ist. Street Fighting Man ist kein Beruf, es ist eine Berufung.

Was andere seiner Generation ins Blutzuckerkoma befördert hätte, Sir Mick of England schüttelte es auf der Bühne des Ernst-Happel-Stadions ab. Einfach so lange mit dem Arsch wackeln, bis die Damen kreischen und der Gürtel wieder am ersten Loch einrastet. Bald passte sogar das Mikro auch noch in die Hose, das er immer dann dort hineinsteckte, wenn er die 50.000 Pilger im Oval beidhändig animierte oder ihnen seinen Segen erteilte.

Zur Beichte an die Bar

Dass dieses aus dem Hosenbund lugende harte Teil an irgendetwas erinnert, ist nur konsequent. Beim Rock’n’Roll geht es schließlich um Sex. Er ist Verführung und Vollzug – und dann mit Vollgas ab zur Beichte an die Bar.

Kurz konzentrieren: Ach ja, "Tumbling Dice" heißt das Ding,
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Damit führte er am Freitag vor Augen, dass sich das Rolling im Bandnamen nicht auf einen Rollator bezieht. Jagger hüpfte, zappelte und tänzelte als wäre er höchstens 77, nicht 78.

Die 1962 gegründeten The Rolling Stones zählen zum Weltkulturerbe. Sie sich anzuschauen ist so etwas wie im Pariser Louvre die Mona Lisa zu betrachten, sich einmal in Rom nach der Decke der Sixtinischen Kapelle zu strecken: eine schöngeistige Pflichtübung des Daseins. Wobei die Mona Lisa seit Jahrhunderten gleich aussieht, während sich die Stones Wind, Wetter und Schneestürmen aussetzten. Da ist es ihnen hoch anzurechnen, dass sie ihr Geld nicht darauf verwenden, sich die Canyons in ihren Gesichtern auffüllen zu lassen.

"My Haberer"

Ron Wood und Keith Richards, die anderen beiden Urgesteine, "my Haberer", wie Jagger Richards nannte, sind wie er Abbilder eines wilden Lebens, die zu Konzertbeginn noch wirkten, als müssten sie sich gerade sehr konzentrieren. Doch das löste sich.

Die erste Hälfte von 18 Songs an diesem Abend waren ein Traum. Spätestens als sie Bob Dylans Like A Rolling Stone spielten, war klar: Die auf der Bühne haben genauso viel Spaß wie die davor. Es folgte eine gefühlvolle Sichtung von Out Of Time, das Jagger unter Zuhilfenahme des Publikums in eine Ehrenrunde verlängerte.

"I put a spell on you!" – Mick Jagger beim Voodoo im Ernst-Happel-Stadion.
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Via Online-Abstimmung hatte sich das Publikum Wild Horses vom Album Sticky Fingers gewünscht. Jene Ballade, mit der sich der Keyboardist und Produzent Jim Dickinson in die Biografie der Stones eingeschlichen hat und die Jagger genau richtig traf.

Living In A Ghost Town, das Baby in der Setlist, kam souverän, bei Paint It Black stand das Stadion auf den Sesseln – und blieb gleich dort, denn es folgte Honky Tonk Women. Das spielte Keith Richards mit der Hingabe eines halb so alten Keith Richards auf Brautschau. Da musste er selber lachen. Wegen solcher Momente geht man zu den Stones.

Ephemere Monumente

Niemand kommt, um den neuen geilen Ibiza-Autotune-Remix von DJ Keef zum Thema Sädisfäkschn zu hören. Man will einmal leibhaftig vor Ort gewesen sein, wenn diese Lebensbegleiter von Generationen ihre ephemeren Monumente errichten. Mit räudiger Gitarre und einem Rhythmus, der aus dem Urschlamm des Blues stammt.

Keith Richards und Drummer Steve Jordan.
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Nach neun Höhepunkten übergab Jagger das Mikro und ging auf eine Blutwäsche, während Richards auf Ruhepuls Slipping Away sang, bevor er mit Happy und Ron Wood an der Pedal Steel Gitarre die Geschwindigkeit wieder erhöhte. Dennoch ergab das einen Hänger, den der wieder aufgefrischte Jagger mit der Disco-Etüde Miss You in die Länge zog. Der Blues Midnight Rambler ging ebenfalls über zehn Minuten – das war vielleicht zu gut gemeint.

Finale Grande

Mit dem Silicon-Valley-Gebet Start Me Up rissen sie die Show wieder an sich, Gimme Shelter und Jumpin’ Jack Flash markierten das Finale, helle Freude überall.

Zur Zugabe kam die Frustrationstoleranzhymne You Can’t Always Get What You Want zum Einsatz, bevor der Abend pflichtschuldig mit Satisfaction zu Ende ging. Jenem Song, der mit jeder Welttournee der Stones eine Spur glaubwürdiger wird. (Karl Fluch, 16.7.2022)