Von den sieben berühmtesten Zitronensorten Italiens spielt jene von Amalfi in der Königsklasse. Sie hat am meisten Aroma.

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Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn / Im dunklen Laub die Goldorangen glühn / Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht / Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht? / Kennst du es wohl?", dichtete Johann Wolfgang von Goethe vor über zweihundert Jahren, nachdem ihn der Anblick der Zitronenhaine an der Amalfiküste verzaubert hatte.

Natürlich kennen wir das "Bel paese", das auch in diesem Sommer von Millionen Touristen besucht wird, die der gleichen Faszination erliegen wie der Dichterfürst. Aber kennen wir auch die Zitrone?

Die Antwort lautet in der Regel: Nein. "Wenn wir Zitronen kaufen, greifen wir uns ein Netz davon aus dem Supermarktregal und basta. Wir wissen nichts von der Zitrone, obwohl es sich um eine Ikone des Mittelmeers und ganz besonders Italiens handelt", betont Manuela Soressi, Gastrojournalistin der italienischen Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore.

Erst Zier-, dann Heilpflanze

Sie hat sich – "aus Neugierde und Passion" – jahrelang mit der gelben Frucht beschäftigt und ihr Wissen nun in dem Buch Il Paese dei Limoni – Storie, profumi e sapori del re degli agrumi italiani veröffentlicht ("Das Land der Zitronen – Geschichten, Düfte und Geschmäcker der Königin der italienischen Zitrusfrüchte"). Es handelt sich um das erste Buch dieser Art in Italien – und das allein sagt viel aus über die Ignoranz, mit welcher der Zitrone sogar im einst wichtigsten Produzentenland der Welt begegnet wird.

Bio ist eine Zitrone nur, wenn sie ungewachst ist. Das sind in Süditalien viele – auch wenn sie offiziell nicht bio sind.
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Das Unwissen beginnt schon bei der Herkunft: Sie stammt aus dem Fernen Osten und wurde im 10. Jahrhundert von Arabern nach Sizilien gebracht. Von der arabischen Bezeichnung "li mum", war es nicht weit zur italienischen "limone".

Astronomische Preise

Den Sizilianern diente die Frucht jahrhundertelang als Zierpflanze – bis ihre heilende Wirkung gegen die Vitamin-C-Mangelkrankheit Skorbut bekannt wurde, die unter Seeleuten gefürchtet war. So wurde die Zitrone schnell zum "Gold des Südens": Die Preise waren astronomisch, die Zitrone war Luxus. Es kam zu einer beispiellosen Anbauschlacht, die von den Bourbonenherrschern des Königreichs beider Sizilien mit großzügigen Subventionen für Plantagen gefördert wurde.

Vor dem Bankrott

Die Zitrone bewahrte das Königreich vor dem Staatsbankrott, machte die Seerepublik Amalfi reich – und begünstigte in Sizilien die Entstehung der Mafia, die im äußerst rentablen Zitronenbusiness ebenfalls mitmischte. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Italien praktisch ein Monopol in der Zitronenproduktion, die Früchte wurden in die ganze Welt exportiert, der Anteil am Weltmarkt betrug über 90 Prozent.

Entscheidend zum Boom der "Heilpflanze" hatte beigetragen, dass die Zitrone zunehmend zum Nahrungsmittel wurde – vor allem in Form von Fruchtsaft, Speiseeis und als Likör wie der beliebte Limoncello. Die duftende, ölige Essenz ihrer Schale wird in der Kosmetik- und Parfümindustrie verwendet. Und sie ist fast immer frisch: Die Zitrone ist die einzige Zitrusfrucht, die mehrmals im Jahr blüht und gleichzeitig reife und unreife Früchte trägt. Sie kann deshalb praktisch das ganze Jahr über geerntet werden.

Als Limoncello ist der Zitronensaft aus Italien nicht wegzudenken.
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In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand die große Zitronenparty in Italien ein relativ abruptes Ende. Andere Mittelmeerländer, allen voran Spanien, produzierten deutlich billiger. Später folgten Argentinien und andere südamerikanische Länder. In Sizilien, wo rund 90 Prozent der italienischen Zitronen produziert wurden, verschwanden in wenigen Jahrzehnten 40 Prozent der Anbaufläche. Der Niedergang hält an: "Seit 1995 ging die Zitronenproduktion von 700.000 auf etwas mehr als 300.000 Tonnen jährlich zurück", meldet der Bauernverband Coldiretti, und die Importe schnellten von 18.000 auf über 100.000 Tonnen in die Höhe. "Die traurige Wahrheit ist, dass heute 27 von 100 Zitronen, die in Italien konsumiert werden, aus dem Ausland stammen", schreibt Coldiretti.

Mit oder ohne Wachs

In einem Punkt sei Italien nach wie vor Europameister, schreibt Buchautorin Manuela Soressi: Das Land hat gleich sieben Zitronensorten, die mit dem EU-Gütesiegel IGP (Indicazione Geografica Protetta) geschützt sind und nach strengen Vorschriften produziert werden. Dies sei für die Konsumenten keineswegs nebensächlich: "Die meisten Supermarktzitronen werden gewachst – aus optischen Gründen, damit sie schön glänzen, aber auch zur Konservierung. Dazu werde das Wachs oft auch mit Fungiziden oder anderen Chemikalien versetzt", betont die Gastrojournalistin.

Eigentlich müsste laut EU-Vorschrift auf der Verpackung vermerkt sein, ob die Zitronen gewachst sind – denn in diesem Fall sollte die Schale nicht konsumiert werden (etwa in Drinks oder für die Zubereitung von Eis, Torten und anderen Süßspeisen). Diese Vorschrift werde aber nur allzu oft verletzt.

Bei den italienischen IGP-Zitronen gebe es diese Gefahr nicht: Die Nachbehandlung mit Wachs oder anderen Stoffen ist untersagt. "Die Konsumenten erhalten ein hochwertiges Naturprodukt, das oft biologisch angebaut wird, auch wenn es nicht offiziell als bio deklariert ist", sagt Soressi. (Dominik Straub aus Rom, 18.7.2022)