Mit einer erstaunlichen Begründung versucht ein 48-jähriger Angeklagter in einem Missbrauchsprozess zu erklären, wie seine DNA-Spuren auf Unterleib und -wäsche einer Zeugin gekommen sind.

Foto: moe

Wien – "Ich habe nichts getan, ich weiß nicht, warum ich hier sitze", sagt Herr D., der Angeklagte, zum Schöffensenat unter Vorsitz von Corinna Huber. Die Staatsanwältin glaubt es zu wissen: Sie wirft dem 48-Jährigen sexuellen Missbrauch einer geistig beeinträchtigten Person vor. Der fünffache Vater soll am 22. März in Wien in der Wohnung eines Bekannten Geschlechtsverkehr mit einer an Trisomie leidenden jungen Frau gehabt haben.

Die Anklage stützt sich nicht nur auf die Aussagen der Frau, sondern vor allem darauf, dass DNA-Spuren des Angeklagten im gesamten Intimbereich und im Slip der Serbin gefunden wurden. Vor der Polizei konnte sich der unbescholtene Afghane das nur dadurch erklären, dass er "Sperma verliere", vor Gericht hat er eine andere überraschende Theorie.

Aus Einkaufszentrum verschwunden

Aber der Reihe nach. Die junge Frau war an diesem Tag laut Anklage mit ihrem Vater in einem Einkaufszentrum. Um ihr das Maskenanlegen zu ersparen, ließ der Vater sie auf einer Bank sitzen. Als er nach fünf Minuten retour kam, war sie verschwunden. Eine Stunde lang habe er sie verzweifelt gesucht, dann seinen Sohn angerufen, der aus der Arbeit kam, wie Letzterer als Zeuge schildert.

"Wir haben dann gemeinsam überall geschaut und Bekannte angerufen, ob sie die vielleicht getroffen hat und mitgegangen ist", sagt der Zeuge. Gegen 15.30 Uhr sei ihnen die Schwester dann aufgeregt aus Richtung der U-Bahn entgegengekommen. "Mein Vater hat sie gefragt, wo sie war und warum sie nicht auf der Bank gewartet habe. Ich hatte den Eindruck, sie schämt sich etwas und hat ihm ins Ohr geflüstert. Danach hat er mir erzählt, was sie gesagt hat."

Nämlich, dass sie mit einem fremden Mann mitgegangen, mit der U-Bahn und einem Bus in eine Wohnung gefahren sei. Dort hätten sich beide ausgezogen, und er habe etwas mit ihr gemacht. Danach habe er sie auf demselben Weg zurückgebracht und bei der U-Bahn stehen gelassen. Der Bruder beschloss nach dieser Schilderung, sofort zur Polizei zu fahren, wo auch die Spurensicherung in Auftrag gegeben wurde.

Am nächsten Tag wiederentdeckt

Am nächsten Tag besuchte die Familie nochmals das Einkaufszentrum, um zu überprüfen, ob es vielleicht im fraglichen Bereich Überwachungskameras gibt. Das war nach Darstellung des Bruders gar nicht nötig – denn D. saß neuerlich auf der Bank. Als ihn die Schwester identifizierte und er mit seinem Vater über die beste Strategie beriet, sei der Angeklagte aufgestanden und habe sich entfernt.

"Ich bin ihm nach, um ein Foto von ihm zu machen, um der Polizei bei der Suche helfen zu können", erzählt der Zeuge dem Senat. "Der Herr hat versucht mich abzuhängen, ich bin ihm bis vor einen Supermarkt gefolgt und habe dann einen Streifenwagen aufgehalten." Die Polizisten notierten, D. habe sofort zu ihnen gesagt: "Ich hatte keinen Sex mit dem Mädchen." Der Angeklagte und sein Verteidiger Patrick Silber widersprechen: Das sei die Antwort auf eine entsprechende Frage der Beamten gewesen.

Wobei bemerkenswert ist, dass D. eine solche Frage verstehen konnte, denn vor Gericht scheitert er ohne Dolmetscher bereits an den Fragen nach den Generalien. Er bekennt sich jedenfalls nicht schuldig und betont, es gehe ihm nicht gut. Vorsitzende Huber bemüht sich, von dem Arbeitslosen eine chronologisch nachvollziehbare Aussage zu bekommen, da er sich gelegentlich widerspricht.

Frau soll Angeklagten verfolgt haben

D.s Version lautet in etwa wie folgt: Die junge Frau habe ihn in dem Einkaufszentrum angesprochen. Sie habe ihm erzählt, dass sie allein lebe und aus Serbien stamme. Da er dort einige Monate gelebt habe, konnte er sie in ihrer Muttersprache begrüßen, worauf sie ihm ständig gefolgt sei, was ihm lästig gewesen sei.

"Hätte ich gewusst, dass sie beeinträchtigt ist, hätte ich nicht mit ihr geredet", beteuert der Angeklagte. Er sei mit ihr in eine Grünanlage gegangen, dort habe er die junge Frau umarmt. Es folgt ein seltsamer Ausbruch des Angeklagten: "Wenn ich sie geküsst hätte, können Sie meine Lippen abhacken!", bietet er der Vorsitzenden an. "Wenn ich sie mit den Fingern am Mund berührt habe, können Sie meine Hand abhacken!", ergänzt er. Da im heimischen Strafgesetzbuch derartige Konsequenzen nicht vorgesehen sind, ignoriert Huber das Offert.

Orgasmus durch Umarmung

Dafür erfährt sie anschließend Erstaunliches: "Ich bin gekommen, als ich sie umarmt habe", lässt der Angeklagte übersetzen. Das müsse auch der Grund sein, wie sein Erbmaterial auf die Geschlechtsorgane und die Unterwäsche der Frau gekommen sei, ist der Angeklagte überzeugt. Da sowohl Huber als auch Beisitzer Wolfgang Etl offensichtlich erhebliche Zweifel an dieser körperlichen Reaktion hegen, wird nachgefragt. D. bleibt dabei: "Es ist natürlich, dass man zum Orgasmus kommt, wenn man jemanden fünf oder sechs Minuten umarmt." – "Wieso umarmen Sie die Frau? Sie haben doch gesagt, sie ist Ihnen lästig gefallen?" – "Sie hat mir leidgetan."

Anschließend sei er mit der U-Bahn gefahren, um einen Freund zu treffen. Die junge Frau sei ihm gefolgt. Auch als er in einen Bus umstieg, sei sie nicht von seiner Seite gewichen. Vor dem Wohnhaus des Bekannten habe er diesen angerufen. Der sei heruntergekommen und habe vor der Haustür sofort gesagt: "Die Frau ist psychisch krank, was macht sie hier?" Erst da will der Angeklagte die Beeinträchtigungen seiner Begleiterin bemerkt haben. Also habe er sie wieder zurück in die ursprüngliche U-Bahn-Station gebracht.

Seine Flucht vor dem Bruder am darauffolgenden Tag erklärt D. so: Er habe die junge Frau wiedergesehen, sie wollte von ihm zwei Euro. Er habe ihr – wohl aus Mitleid – sogar 20 Euro angeboten, dann habe sie aber mit einem Mann gesprochen, der habe "sehr böse" geschaut und sei in seine Richtung gekommen. Daher habe er Reißaus genommen.

Familie als Unschuldsargument

Als ihn die Vorsitzende noch einmal dezidiert nach der Herkunft seiner DNA-Spuren fragt, weicht der Angeklagte aus. "Ich schäme mich vor Ihnen und meiner Familie, dass mir so was vorgeworfen wird!", klagt er angesichts seiner Gattin und Tochter, die im Zuseherinnenraum sitzen. Und er fühlt sich offenbar ungerecht behandelt: "Ich bin verheiratet, ich habe Kinder, ich habe diese Frau wie meine Schwester betrachtet!", argumentiert er seine Unschuld.

Die auf Video aufgezeichnete kontradiktorische Einvernahme der jungen Frau wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezeigt. Was die, die dableiben dürfen, zu sehen bekommen, kann zumindest teilweise aus dem anschließenden Gutachten der Sachverständigen Tanja Guserl geschlossen werden. Die Expertin war damit beauftragt, die Aussagefähigkeit und -tüchtigkeit sowie den Grad der geistigen Beeinträchtigung festzustellen.

Die junge Frau weise eine "deutliche Intelligenzminderung" auf, könne maximal Sätze mit drei Wörtern formulieren und habe ein stark eingeschränktes Frageverständnis, referiert die Sachverständige. Allerdings: Im Rahmen ihrer Möglichkeiten sei sie sehr wohl fähig, ihr erinnerliche Sachverhalte einfach auszudrücken, teilweise könne sie sogar Details wiedergeben.

Aussagetüchtig

Dass die Trisomie-Patientin mit einem Fremden mitgehe, hält Guserl für möglich, sie habe weder Gefahrenbewusstsein noch Schamgefühl, diagnostiziert die Fachfrau. Von sich aus sei die junge Frau aber eine passive Person, wenn sie aber jemand auffordere, mitzukommen, würde sie das wohl machen. Zusammengefasst leide sie zwar an einer schweren geistigen Behinderung, die auch für Außenstehende leicht erkennbar sei, die Aussagetüchtigkeit sei aber durchaus gegeben, ist die Sachverständige überzeugt.

"Wenn sie so beeinträchtigt ist, ich bin auch nicht ganz gesund ...", beschwert sich der Angeklagte in seiner Reaktion. "Sie können mich auch zu einem Gutachter schicken!", fordert er den Senat auf. Verteidiger Silber sekundiert und beantragt die Beischaffung der Krankenakte seines Mandanten und ein psychiatrisches beziehungsweise psychologisches Gutachten. D. leide an Epilepsie und posttraumatischer Belastungsstörung, daher sei er objektiv nicht in der Lage gewesen, die Beeinträchtigung der jungen Frau zu erkennen, und er habe eine eingeschränkte Wahrnehmung.

Diese Anträge werden vom Senat nach kurzer Beratung abgewiesen. Die Krankenakte sei ein unzulässiger Erkundungsbeweis, da bisher nichts in Richtung einer psychischen Erkrankung des Angeklagten behauptet worden sei. Auch das Gutachten wird abgelehnt: Es gäbe keine Hinweise, dass die beiden genannten Erkrankungen eine Zurechnungsunfähigkeit auslösen oder verhindern würden, dass man die geistige Beeinträchtigung eines anderen Menschen erkennen könne.

Vertagt wird aber dennoch auf den 27. Juli: Der Besitzer der Wohnung, von dem D. nur den Namen und eine Telefonnummer hat, soll bis kommende Woche von der Polizei gefunden und einvernommen werden. (Michael Möseneder, 18.7.2022)