Auf dem Kleiderständer hinter ihr hängen die Korsetts und Korsagen fein säuberlich aufgereiht. Barbara Pesendorfer ist eine Spezialistin ihres Fachs. Für Marie Kreutzers in Cannes gefeierten Film Corsage hat sie die geschnürten Oberteile der Protagonistinnen gefertigt, auf Instagram hat ihr Label Royal Black Couture 108.000 Fans. Wir haben mit ihr über die Unterschiede zwischen Korsett und Korsage, gängige Vorurteile, Kim Kardashians Wespentaille und die Bedürfnisse männlicher Kunden gesprochen.

Das Korsett der Künstlerin und Aktivistin Ina Holub wurde von Barbara Pesendorfer maßangefertigt. Ina Aydogan hat sie fotografiert.
Foto: Ina Aydogan

STANDARD: Kaum ein Kleidungsstück wird so kontrovers diskutiert wie das Korsett. Ist es so schlimm wie sein Ruf?

Pesendorfer: Das liegt daran, dass meist Extrembeispiele diskutiert werden. Die schmal geschnürte Wespentaille gilt als abschreckend. Dabei war das Korsett früher ein ganz normales Wäschestück wie heute der BH. Wenn einfache Frauen auf dem Feld in ihm ihre Arbeit verrichtet und lange Wege zurückgelegt haben, konnten sie sich nicht einschnüren. Es diente als Stütze, vergleichbar mit dem heutigen Sport-BH.

STANDARD: Der BH wird bis heute immer wieder infrage gestellt!

Pesendorfer: Wenn man eine schlanke Figur und Körbchengröße A hat, braucht man ihn vielleicht nicht. Aber wenn man kurvig ist und Körbchengröße F trägt, ist er hilfreich. Das war damals mit dem Korsett nicht anders. Ich möchte aber unbedingt zwischen Korsett und Korsage unterscheiden.

STANDARD: Inwieweit unterscheiden sich die Kleidungsstücke voneinander?

Pesendorfer: Optik und Verarbeitung sind ähnlich, aber das Korsett formt, stützt und macht eventuell die Taille schmaler. Meist ist es deshalb stabiler gearbeitet und schwerer. Die Korsage sieht man oft auf Bällen und Hochzeiten. Sie liegt am Körper an, formt ihn aber nicht. Bei den Diskussionen wird beides in einen Topf geworfen, obwohl es meist um das Korsett geht. Auf den roten Teppichen werden in der Regel Korsagen getragen – mit Ausnahmen. Eine Kim Kardashian mag Korsetts, weil sie die Taille reduzieren.

STANDARD: Hat Kim Kardashians Sanduhrfigur körperformende Kleidungsstücke populärer gemacht?

Pesendorfer: Darüber diskutiere ich gern mit meinen Kolleginnen. Kardashian propagiert und verkauft Waist-Trainer, jene Teile aus Spandex, die die Taille einschnüren. Davon abgesehen, dass Kardashian ihre Wespentaille eher Operationen als jenen Spandexstreifen zu verdanken hat, spricht mich dieses Schönheitsideal nicht an.

STANDARD: Als Billie Eilish für ein "Vogue"-Shooting ihre Oversize-Shirts gegen eine Korsage eingetauscht hat, reagierten viele mit Unverständnis. Verstehen Sie das?

Pesendorfer: Ich erinnere mich an die Kontroverse. Die Fotos und die Stücke haben mir gut gefallen. Wenn es ihre eigene Entscheidung war, eine Korsage anzuziehen, finde ich das super. Aber das weiß man natürlich nicht.

STANDARD: In der Gothic-Kultur waren Korsett und Korsage nie weg. Heute werden sie von Popstars wie Lizzo getragen und gelten als hip. Warum?

Pesendorfer: Ich bin wahrscheinlich stark von meinem Beruf beeinflusst: Für mich waren Korsett und Korsage immer da: in den Clubs, auf den Bällen und den Hochzeiten.

STANDARD: Es heißt, das Korsett enge ein, sei gemacht für dünne Menschen, ein Fetischobjekt. Was entgegnen Sie?

Pesendorfer: Ich kenne diese Vorurteile, seit ich dieses Kleidungsstück fertige. Man kann Korsetts aus unterschiedlichen Gründen tragen. Ich arbeite am liebsten für Menschen, die mit ihnen ihre Persönlichkeit unterstreichen möchten – anstatt sich durch Kleidung, in welcher Form auch immer, einengen zu lassen.

STANDARD: Warum trägt man es denn dann?

Pesendorfer: Man wirkt aufrechter, präsenter, selbstbewusster. Das Korsett sagt: Schau mich an, ich bin stark. Das finde ich eine schöne Idee. Für mich ist es ein Partyoutfit, ich habe Spaß daran, mich mit ihm zu erfinden. Für Menschen mit Rücken- oder Haltungsproblemen funktioniert es als Stütze. Es gibt da dieses schöne Buch Solaced – 101 True Stories about Corsets, Well-Being and Hope von Lucy Williams. Da geht es um Menschen mit Gesundheitsproblemen wie Skoliose, Bandscheibenvorfällen, psychischen Problemen. Für Leute mit autistischen Störungen kann ein Korsett umarmend wirken. Viele fühlen sich von ihm geschützt. Dieser Effekt wird in der "Deep Pressure Therapy" eingesetzt.

STANDARD: Das Korsett ist für alle etwas?

Pesendorfer: Für jede Figur, jedes Alter, jedes Geschlecht, sofern die Person gerne ein Korsett tragen möchte. Das zu vermitteln ist mir ein Anliegen. Wichtig ist, dass es gut sitzt. Dafür werden viele Maße genommen. Neben der Brust, Taille, Hüfte messe ich die Länge des Oberkörpers, notiere Schiefstellungen. Was ich mache, ist Architektur am Körper.

STANDARD: Wie lange arbeiten Sie an einem Stück?

Pesendorfer: Ein simples Vollbrustkorsett benötigt rund 50 Stunden, die aufwendigen Stücke kommen auf 300 bis 500 Arbeitsstunden. Weil das teuer wird und ich nie Kompromisse eingehen wollte, verdiene ich mittlerweile auch Geld mit der Vermittlung meines Wissens.

STANDARD: Auch Männer haben das Korsett entdeckt!

Pesendorfer: Absolut. Wie die Frauen kommen sie aus individuellen Gründen zu mir: Die einen wollen eine bestimmte Silhouette erreichen, die anderen ein Showpiece haben. Meine Kunden sind meist Künstler, Performer, Models, Dragqueens: Im Mainstream ist das Korsett bei Männern aber sicher noch nicht angekommen.

Viele Oberteile (wie jenes vom schwedischen Label Acne) wirken wie lockere Zitate einer Corsage.
Foto: Acne

STANDARD: Funktioniert es im Alltag?

Pesendorfer: Es kommt ganz auf die Materialien an, aber ja! Ich habe schon häufiger Tüllkorsetts mit Stäben aus Kunststoff gefertigt. Die Stäbe werden in der Orthopädie verwendet und sind ähnlich strapazierfähig und leicht wie echtes Fischbein, das früher verwendet wurde. Das Korsett kann auch eine Alternative zum BH sein: Während beim BH das Gewicht auf den Schultern liegt, stützt das Korsett von unten. Menschen, die große Brüste und dadurch Nacken- und Rückenprobleme haben, hilft das. Einige meiner Kunden tragen es 23 Stunden am Tag.

STANDARD: Warum spielt es dann im Handel eine so geringe Rolle?

Pesendorfer: BHs kauft man von der Stange, sie sind günstig, man wirft sie in die Waschmaschine. Ein Korsett hingegen muss zur Person passen. Wenn es nicht maßgefertigt ist, kann es Schmerzen verursachen. Sportliche, muskulöse Menschen brauchen meist keine Stütze. Der Druck auf die Muskulatur fühlt sich dann wie eine Einschränkung an.

Die Stylistin Lotta Volkova hat Jean Paul Gaultiers kurzes Korsagenoberteil heuer neu interpretiert.
Foto: Jean-Paul Gaultier über Voo Store

STANDARD: Sie haben die Korsetts für den Film "Corsage" gefertigt. Die Hauptdarstellerin hat in Interviews geäußert, sich eingeengt gefühlt zu haben …

Pesendorfer: Geschichte und Drehbuch haben eine möglichst dramatische Silhouette vorgegeben. Die Herausforderung war, diese realistisch umzusetzen. Das Kleidungsstück sollte zu spüren, aber auch tragbar sein. Deshalb habe ich eine Taillenreduktion um sechs bis acht Zentimeter vorgeschlagen, viel weniger, als es das Drehbuch vorgesehen hat. Und dazu sogenannte Bust-Improver, die Push-ups von damals.

STANDARD: Erinnern Sie sich an Ihr erstes Korsett?

Pesendorfer: Mein allererstes habe ich mit 14 oder 15 genäht. Weil es mir an Kleingeld gefehlt hat, habe ich die Stoffe eines alten Dirndls verwendet. Damals war ich interessiert an der Gothic-Subkultur, über Thierry Mugler bin ich überhaupt auf das Kleidungsstück aufmerksam geworden. Später habe ich mich dann auch für Jean Paul Gaultier und Alexander McQueen begeistert. Am nachhaltigsten beeindruckt hat mich aber Muglers Gabe, mit Nadel und Faden Geschichten zu erzählen. Seiner letzten Ausstellung bin ich sogar bis nach Montréal hinterhergereist.

Fans des Rokokomalers François Boucher könnten sich ausgefallene Korsagen von Vivienne Westwood zulegen.
Foto: Vivienne Westwood, Acne

STANDARD: Haben Sie Tipps zum Tragen des Korsetts?

Pesendorfer: Man sollte keine unrealistischen Erwartungen haben. Korsett und Körper müssen sich aneinander gewöhnen. Wie Schuhe sollte es eingetragen werden. Wenn man das Stück sofort auf Anschlag schnürt, tut das womöglich weh. Übrigens: Je weicher das Gewebe der Trägerin oder des Trägers ist, desto problemloser lässt es sich verteilen. Menschen mit großen Größen spüren eine Reduktion um 15 Zentimeter kaum. (Anne Feldkamp, RONDO, 27.7.2022)

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