Mit 18 Jahren war Tolja* beim russischen Pflichtmilitärdienst – seitdem hat er einen Militärpass und ist Reservist. Wenn die Armee ihn braucht, kann er jederzeit einberufen werden. Als im vergangenen Winter erste Bekannte Einberufungsbefehle erhielten, flog Tolja nach Deutschland. "Ich bin Jeside. Schon allein meine Religion verbietet mir, jemanden zu verletzen oder gar zu töten", sagt er. Als er am 24. Februar in Berlin auf sein Handy blickte, sah er: Der Krieg hat begonnen. Am nächsten Tag stellte Tolja einen Asylantrag. "Für mich ist dieser Krieg Wahnsinn. Es gibt keinen Unterschied zwischen Ukrainern und Russen. Wir sind zwei Völker mit der gleichen Mentalität", so Tolja im Videochat.

In der russischen, in der ukrainischen, aber auch in der belarussischen Armee gibt es viele Fälle von Desertion, aber auch von präventiver Flucht vor dem Kriegsdienst.
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Der 26-Jährige kommt aus Nowosibirsk, einer Stadt 3.500 Kilometer von der russischen Hauptstadt Moskau entfernt, weit im asiatischen Teil des Landes. Aus diesen ärmeren Regionen Russlands, in denen viele ethnische Minderheiten leben, rekrutiert Wladimir Putins Regime seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine die meisten Soldaten.

Tolja habe schon im Jänner geahnt, dass sich etwas zusammenbraut. "Plötzlich sind Lebensmittel um 30 Prozent teurer geworden", erzählt er. "Außerdem drohte Putin ständig, die Armee in den Donbass zu schicken."

Tolja ist kein Einzelfall. 2011 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) klar, dass es ein Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung gibt. Grundlage ist Artikel neun der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK): das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Wer aus einem autoritären Staat flieht, weil er gezwungen wäre, sich an einem völkerrechtswidrigen Krieg zu beteiligen, und ihm deshalb Strafe droht, gilt als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Das regelt auch eine EU-Richtlinie.

Zahlreiche rechtliche Hürden

In der Praxis gibt es für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die Schutz in der EU suchen, aber zahlreiche rechtliche Hürden. Es vergingen nach Kriegsbeginn drei Tage, bis etwa der Deutsche Bundestag offiziell an russische Soldaten appellierte: Wer desertiere, erhalte Asyl. Und EU-Ratspräsident Charles Michel legte eine solche Erklärung Anfang April auch allen anderen EU-Mitgliedsstaaten nahe. An russische Soldaten gerichtet sagte er: "Wenn ihr euch nicht dazu hergeben wollt, eure ukrainischen Brüder und Schwestern zu töten, wenn ihr keine Verbrecher sein wollt, dann werft eure Waffen weg, hört auf zu kämpfen, verlasst das Schlachtfeld!"

Ob Tolja mit seinem Asylantrag Erfolg haben wird, ist dennoch fraglich. Nach russischem Strafgesetzbuch gilt er nämlich nicht als Deserteur: Gemäß Artikel 338 wäre das jemand, der unbefugt seine Einheit verlässt, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. Darauf stehen bis zu sieben Jahre Gefängnis. Das deutsche Innenministerium stellte indes klar, dass sich der deutsche Appell ausschließlich an Deserteure richte; nicht an Wehrdienstflüchtige, die präventiv das Land verlassen, um nicht in den Krieg geschickt zu werden. Von den österreichischen Behörden gibt es bisher keinen solchen Appell: Auf Anfrage heißt es aus dem Innenministerium, man werde jeden Antrag individuell prüfen.

Forderung nach Schutz

"Frühere Asylverfahren von Kriegsdienstverweigerern haben gezeigt, dass deutsche Behörden und Gerichte sehr hohe Beweisanforderungen stellen, die viele der Betroffenen nicht erfüllen können", sagt Rudi Friedrich, Geschäftsführer der deutschen NGO Connection e. V., die Kriegsdienstverweigerer und Deserteure berät. "Neben einem Nachweis über die Rekrutierung fordern deutsche Behörden unter anderem auch Belege für einen Einsatz im Kriegsgebiet und anstehende völkerrechtswidrige Handlungen. Das ist in der Praxis kaum zu realisieren."

Friedrich fordert, dass auch Wehrdienstflüchtige wie Tolja geschützt werden sollten: "Denn nur wenn man früh genug geht, kann man sich ja wirklich dem Krieg entziehen. Es ist völlig widersinnig, wenn man erst in den Krieg muss, um überhaupt einen Schutz zu bekommen können."

"Es ist widersinnig, wenn man erst in den Krieg muss, um überhaupt Schutz bekommen zu können." – Rudi Friedrich von der deutschen NGO Connection e. V.


Was die Rekrutierung für die Ukraine angeht, ist Moskaus Strategie undurchsichtig. Was sich abzeichnet, ist, dass vor allem junge Männer – oft Grundwehrdiener aus abgelegenen Regionen – eingezogen werden. In dieses Muster würde Tolja passen.

Eine Generalmobilmachung hat Putin bisher vermieden, genauso wie er nach wie vor von einer "Spezialoperation" spricht. Daher gilt auch kein Kriegsrecht, was sich wiederum auf den Umgang mit Deserteuren auswirkt.

Wer ist ein Deserteur?

"Bisher sind uns keine Fälle bekannt, bei denen Strafverfahren eingeleitet wurden", sagt Michael Benyash, ein russischer Anwalt, im Videotelefonat mit dem STANDARD. Benyash vertritt eine Gruppe russischer Soldaten aus der Region Krasnodar, die am 25. Februar, dem Tag nach Kriegsbeginn, den Befehl verweigerten, die ukrainische Grenze zu übertreten. Sie wurden alle aus der Armee entlassen.

Drei von ihnen versuchen sich nun dagegen zu wehren. Wie viele russische Soldaten seit Kriegsbeginn ebenfalls Befehle verweigert haben, ist unklar. Benyash, der die Oppositionsbewegung rund um Alexej Nawalny unterstützt, spricht jedenfalls davon, dass sich bei ihm laufend Soldaten melden, die sich für das Desertieren interessieren würden.

Der 19-jährige Belarusse Vlad* war gerade am Ende des vierten Monats seines Wehrdienstes, als er auf eine andere Basis nahe der ukrainischen Grenze verlegt wurde. "Ich begann darüber nachzudenken, wegzulaufen, als wir in Kampfbereitschaft versetzt wurden und immer mehr russische Fahrzeuge auf unserer Basis eintrafen. Wir mussten den Russen helfen, Waffen zu verladen. Alles mögliche: Raketen, Granaten, Bomben", erzählt Vlad. Eigentlich hatte er vor, nach eineinhalb Jahren Wehrpflicht im Blumenladen seiner Eltern oder als Elektriker zu arbeiten. Am Morgen des 24. Februar wurden er und seine Kameraden beim Appell informiert, dass Russland begonnen habe, die Ukraine zu bombardieren. "Die Ukrainer haben Belarus nichts getan, warum sollten wir uns an Putins Krieg beteiligen?", fragt Vlad.

Bisher haben sich offiziell zwar keine belarussischen Truppen am Krieg in der Ukraine beteiligt – allerdings spielt die ehemalige Sowjetrepublik eine entscheidende Rolle, indem es Russland unter dem Deckmantel gemeinsamer Militärübungen nicht nur den Transport von russischem Militärpersonal, schweren Waffen und Panzern ermöglicht, sondern auch erlaubt, Raketen vom belarussischen Hoheitsgebiet aus auf die Ukraine abzufeuern.

Lukaschenko unter Druck

Nun steht Präsident Alexander Lukaschenko erneut unter Druck. Es zeichnet sich ab, dass Belarus früher oder später ebenfalls in den Krieg eintreten könnte. Seit 23. Mai ist auf der Homepage der Beschaffungsagentur der belarussischen Regierung ein öffentlicher Auftrag über 20.000 militärische Erkennungsplaketten für das Verteidigungsministerium zu sehen. Einreichfrist: 9. August 2022.

"In der belarussischen Armee werden Soldaten wie Kanonenfutter behandelt", erzählt Vlad weiter. Einmal sei er von einem betrunkenen Offizier getreten worden, nur weil dieser dachte, dass er unerlaubt ein Handy besitze. Just über ein solches haben er und einige seiner Kameraden schließlich tatsächlich auch Videos von Angriffen der russischen Armee auf ukrainische Zivilisten gesehen.

"Mit solch einem direkten Angriff hatte ich nicht gerechnet", sagt Vlad. Er begann sich Gedanken zu machen, wie er die Militärbasis unentdeckt verlassen könnte. "Ich habe mich circa eine Woche lang vorbereitet. Vor allem habe ich beobachtet, welche Uhrzeit am besten wäre, um zu verschwinden." Schließlich verließ er die Militärbasis um vier Uhr morgens unentdeckt und schaffte es in wenigen Stunden über die Grenze.

Seinen Aufenthaltsort möchte er aus Sicherheitsgründen nicht nennen – aus Angst vor Lukaschenkos Geheimdiensten. Vlad ist der erste belarussische Soldat, von dem bekannt ist, dass er es geschafft hat zu desertieren. Seine Familie und seine Freundin seien bereits massiv unter Druck gesetzt worden, ihn zur Rückkehr nach Belarus zu überreden. "Ich weiß nicht, warum, aber während der ganzen Aktion hatte ich keine Angst. Erst als ich über der Grenze war, wurde ich emotional. Ich konnte es nicht glauben, dass ich es geschafft hatte", sagt der junge Mann. Jetzt hat er Asyl beantragt.

Auch in der Ukraine ein Thema

Olga Karatsch von der belarussischen NGO Nasch Dom berät ihn. Sie ist zuversichtlich, dass er Schutz in einem EU-Land bekommt. "Das ist auch enorm wichtig. Denn nur so sehen die tausenden anderen jungen Männer, dass es möglich ist zu desertieren. Die meisten probieren es nämlich erst gar nicht, weil sie glauben, keine Chance zu haben", sagt sie.

Doch nicht nur aus den beiden autoritären Staaten Russland und Belarus fliehen Deserteure. Auch in der Ukraine, die sich seit Februar gegen die russische Angriffe und Verbrechen verteidigt, nimmt die Anzahl an Kriegsdienstverweigerern zu. Das Land verliert täglich mehr als 100 Soldaten, dazu kommen mehrere hundert Verletzte.

In einem Bericht von ukrainischen und westlichen Geheimdienstmitarbeitern, den der britische Independent im Juni einsah, ist deshalb von einer "demoralisierenden Wirkung auf die ukrainischen Streitkräfte" die Rede. Weiter heißt es im Bericht, dass die Fälle von Desertion jede Woche zunehmen.

Mindestens zwei Kriegsdienstverweigerer wurden in der Ukraine mittlerweile zu drei bzw. vier Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Seitdem das Kriegsrecht ausgerufen wurde, können männliche Staatsbürger im wehrfähigen Alter das Land nur unter bestimmten Voraussetzungen verlassen: etwa aus medizinischen Gründen oder wenn sie alleinerziehende Väter sind oder sich um Familienmitglieder kümmern müssen, die unter einer schweren Behinderung leiden. (FEATURE: Johannes Pucher, Daniela Prugger, 19.7.2022)