Radelnd in die Vergangenheit: Die Grenzsteine mit QR-Code entlang der Radroute Nummer eins erinnern an Fluchtgeschichten, Widerstand und Behördenwillkür.

Foto: Dietmar Walser

"Wenn Sie mich zurückschicken, dann erschießen Sie uns lieber da", ertönt es aus der Hörstation 22 des Projekts Über die Grenze. Entlang der Radroute Nummer eins vom Bodensee bis zur Silvretta erzählen 52 Gedenksteine die Geschichten einiger vor dem NS-Regime Geflüchteten – so auch jene Ida Kreutners, die 1938 mit ihrer Familie bei der Flucht von Schweizer Grenzwächtern gefasst wurde.

Von den Geschehnissen berichten kurze Hörspiele, u. a. von Schriftsteller Michael Köhlmeier eingesprochen, sowie Bilder- und Archivmaterial. Hanno Loewy, der Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems, initiierte das Projekt, dessen Geschichten auf einer interaktiven Karte auch online zugänglich sind.

Nach dem "Anschluss" 1938 versuchten zahlreiche Flüchtende die Grenze zur Schweiz zu überqueren. Diese war streng überwacht, der Rhein ein zusätzliches Hindernis, ohne Schmuggler und Fluchthelfer ein beinahe unmögliches Unterfangen. Ida Kreutner aber hatte Glück: Ein Schweizer Grenzwächter kümmerte sich um ihre Familie und publizierte sogar einen anonymen Brief über das Elend an der Grenze in den Schweizer Zeitungen. Schließlich durften die Kreutners bleiben.

Keine Friedensinsel

Doch nicht immer gelang die Flucht. Viele der Hörspiele erzählen von gescheiterten Versuchen, Behördenwillkür und Zurückweisungen von Menschen, die direkt an die Gestapo übergeben wurden. Die Aufnahmebereitschaft in der Schweiz sank bereits 1938, Zeitungen warnten vor Überfremdung, die Grenzen wurden abgeriegelt.

Ein Vorgehen, das sowohl auf Zuspruch als auch Widerstand stieß. Ein Gedenkstein berichtet von einem Protestbrief Schweizer Schülerinnen: Dass die Schweiz, "die Friedensinsel", verfolgte Menschen "wie Tiere über die Grenze wirft", hätten sie sich nie erträumt. Die Folgen des Widerspruchs: Verhör und Ermahnung.

Unter den Geflüchteten könnten sich gefährliche Menschen einschleichen, sie würden den Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen, die Schweiz hätte schon mehr als andere Länder getan, heißt es in einem Entwurf des Antwortbriefs vom Schweizer Justiz- und Polizeidepartement. Einblicke, die zum Nachdenken anregen – denn polarisierende Fluchtdiskurse finden an den österreichischen und europäischen Grenzen, nun fast 80 Jahre später, beinahe ebenso statt.

Auf der Radroute Nummer eins lässt es sich also in die Vergangenheit radeln – mit Blick in die Gegenwart. Das Projekt Über die Grenze ist frei zugänglich, eine Radkarte auf der Onlineplattform verfügbar. Im Sommer wird neben geführten Radtouren auch die Theaterwanderung Auf der Flucht angeboten. (Laura Kisser, 19.7.2022)