Eine Anzeige einer Apotheke im französischen Nantes zeigte am Montag bereits 44 Grad an. Die Hitzewelle weckt bei vielen Französinnen und Franzosen Erinnerungen an das Jahr 2003.

Foto: APA/AFP/LOIC VENANCE

Im Großraum Paris nähern sich die Temperaturen gefährlich der 40-Grad-Schwelle. Dieser Hitzewert weckt notgedrungen Erinnerungen an das Jahr 2003, als die Thermometer in der französischen Metropole 39,5 Grad angezeigt hatten. Diese "canicule" (Hitzewelle) vor 19 Jahren erwischte die Regierung völlig unvorbereitet. Bestürzt musste das Land des Individualismus erkennen, wie zahllose ältere Menschen ohne jeden Kontakt zur Außenwelt lebten – und in jener glühenden Sommerhitze in völliger Einsamkeit starben.

15.000 Todesopfer wurden in jenem August auf die Hitzeeinwirkung und die damit verbundene Luftverschmutzung mit Ozon und Stickstoff zurückgeführt. Unter den 75- bis 94-Jährigen schnellte die Sterblichkeit um 70 Prozent in die Höhe, unter den über 95-Jährigen gar um 120 Prozent. In diesen Altersklassen waren die Frauen fast doppelt so stark betroffen wie Männer. 45 Prozent starben in Spitälern und Kliniken, 19 Prozent in Altersheimen – und 35 Prozent zu Hause.

Dramatische Einzelschicksale

All diese Zahlen vermitteln nur einen schwachen Eindruck von den Einzelschicksalen und dem nationalen Trauma, das die "canicule" von 2003 bewirkte. Viele betagte Französinnen starben in ihren einstigen Dienstzimmern unter den brennend heißen Zinkdächern von Paris, ohne dass sich jemand um sie kümmerte. Im August waren Familienangehörige, Betreuer und Ärztinnen allesamt im Urlaub – oft ohne dass sie sich abgesprochen hatten. Eine 87-jährige Dame namens Jeanne Salesses wurde erst mehrere Tage nach ihrem Tod gefunden; der kleine Ventilator drehte sich noch neben ihr. Die sterblichen Überreste von Georgette Guebey wurden entdeckt, weil sich im Hausflur Leichengeruch breitmachte. Die 97-jährige Dame hatte seit Jahren nur noch eine Haushaltshilfe und ab und zu einen Arzt zu Gesicht bekommen – und beide waren in jenem August fern von Paris.

Das Ausmaß des Sterbens wurde in jenem August noch vor Abflauen der Hitzewelle bekannt. Den ersten Alarm schlugen Bestattungsunternehmen, die mit ihrer Arbeit nicht mehr nachkamen. In einzelnen Friedhöfen rund um Paris mussten sie wegen des Andrangs gar improvisierte Kapellen einrichten. Der Frischmarkt von Rungis, der den ganzen Großraum von Paris mit zwölf Millionen Einwohnern versorgt, öffnete mehrere Kühlräume für die Aufbewahrung von Leichen. Ende des Monats, als wieder normalere Temperaturen einzogen, warteten in Rungis noch 300 Hitzetote darauf, von ihren Angehörigen abgeholt zu werden.

DER STANDARD

Neue Maßnahmen

Die Erkenntnis einer nationalen Katastrophe für ein Land, das sich als sozial versteht, aber im Alltag nur wegen Solidarität kennt, ließ nicht auf sich warten. Mehrere Untersuchungsberichte legten die Missstände offen, und die Regierung reagierte einmal sehr prompt. Die 7.400 öffentlichen Altersheime im Land wurden verpflichtet, zumindest ihre Gemeinschaftsräume zu kühlen. Zudem wird ein Register von alleinstehenden älteren Menschen geführt, die bei Hitzewellen per Telefon kontaktiert werden.

Diese Maßnahmen haben sich als wirksam erwiesen. In Hitzeperioden seit 2003 ist die Sterblichkeit in deutlich niedrigeren Dimensionen geblieben. Auch jetzt sind in Frankreich nach ersten – sehr ungenauen – Angaben kaum Hitzetote zu beklagen, während sie in Spanien oder Portugal in die Dutzenden gehen.

Regierung warnt

Die Pariser Stadtverwaltung hat am Montag ihren eigenen "plan canicule" aktiviert. Parks bleiben bis Mitternacht offen, Ämter mit kühlen Räumen werden der Bevölkerung zugänglich gemacht. Und die betagten Menschen in ihren "chambres de bonne" (Magdzimmern) erhalten täglich Besuch oder einen Anruf.

Die Regierung warnt, dass die aktuelle Bruthitze länger dauern dürfte als diejenige von 2003. "Seither haben wir viel gelernt", verspricht aber ihr Sprecher Olivier Véran. Zugleich appelliert er an die Bevölkerung: "Wenn Sie eine Nachbarin kennen oder wenn Sie eine Großmutter haben, die weit weg wohnt; wenn Sie geschwächte oder betagte Personen in Ihrem Umfeld kennen, dann nehmen Sie sich Zeit, bei ihnen anzuklopfen, um sicherzugehen, dass sie genug trinken und dass es ihnen gutgeht." (Stefan Brändle aus Paris, 19.7.2022)