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Die mikrobielle Vielfalt im menschlichen Verdauungstrakt ist schier unüberblickbar – und hat einen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden.

Foto: Picturedesk

Allein ist der Mensch nie, egal wie einsam er sich fühlt. Das menschliche Mikrobiom, bestehend aus zehntausenden Billionen Mikroorganismen, besitzt mindestens hundertmal mehr Gene als unser eigener Körper. Wie sehr uns diese mikrobiellen Mitbewohner beeinflussen, wurde durch wissenschaftliche Entdeckungen in den letzten Jahrzehnten klar. Als ein Pionier in der Erforschung des Mikrobioms und seiner Rolle für Gesundheit und Krankheit gilt der US-amerikanische Mikrobiologe Jeffrey Gordon. Anfang Juli wurde er in Bern mit dem Balzan-Preis 2021 ausgezeichnet, mit dem die Internationale Balzan-Stiftung jährlich herausragende Wissenschafterinnen und Wissenschafter in verschiedenen Disziplinen ehrt.

STANDARD: Sie haben in Ihrer Preisrede erzählt, dass Sie als Kind davon träumten, Astronaut zu werden und zum Mars zu fliegen. Wie wurde es dann doch die irdische Mikrobiologie?

Gordon: Seit ich in meiner Jugend das Buch Mikrobenjäger des Biologen Paul De Kruif gelesen hatte, war ich fasziniert von diesem Feld. Und ich stellte fest, dass man nicht ins All reisen muss, um neue Lebensformen zu entdecken – im menschlichen Körper existiert eine eigene Welt mit Billionen Bewohnern, eine Terra incognita.

STANDARD: Sind wir Menschen gar keine so unabhängigen, selbstständigen Lebewesen, wie wir gerne glauben?

Gordon: Ich würde uns eine integrierte Einheit nennen, eine Zusammenstellung menschlicher und mikrobieller Zellen und Gene. Und damit sind wir keineswegs einzigartig, das ist eigentlich ein Charakteristikum des Lebens auf der Erde. Wenn wir weit in der Evolution zurückschauen, sehen wir von Beginn an eine große Herausforderung: Nährstoffe sind nicht überall verfügbar, und sie sind chemisch sehr komplex. Jeder Organismus besitzt aber nur eine bestimmte Anzahl von Genen, die benötigt werden, um diese Nährstoffe zu verwerten. Eine Lösung liegt darin, Mikroben einzuladen und mit ihnen die Nährstoffe zu teilen: Sie haben eine enorme biochemische Vielseitigkeit, die auch dem Wirt zugutekommt. Und so entsteht eine enorm einflussreiche Beziehung.

"Mikroorganismen bieten fantastische Möglichkeiten, uns zu helfen." – Mikrobiologe Jeffrey Gordon

STANDARD: Was wissen wir über diese Beziehung, wie sehr mischen unsere winzigen Mitbewohner in unserem Leben mit?

Gordon: Diese Frage steht schon am Beginn der Mikrobiologie. Die Schwierigkeit bei der Suche nach Antworten ist, herauszufinden, welche spezifischen Einflüsse bestimmte Mikroben haben, aber auch, wie sie in einer großen Gemeinschaft mit anderen funktionieren und in Wechselwirkung stehen. Das ist sehr kompliziert, denn das Mikrobiom ist ein dynamisches und vielfältiges System. Ich habe mich auf das Zusammenspiel zwischen dem Mikrobiom im Darm, der Ernährung und der menschlichen Gesundheit konzentriert, insbesondere bei unterernährten Kindern: Unterernährung ist die häufigste Todesursache bei Kindern unter fünf Jahre, und vieles deutete darauf hin, dass fehlende Nahrung nicht der einzige Faktor dafür ist.

STANDARD: Was konnten Sie herausfinden?

Gordon: Mein Team und ich konnten zeigen, dass die Zusammensetzung des Darmmikrobioms für den Stoffwechsel und den Ernährungszustand äußerst wichtig ist. Es zählen eben nicht allein die Nährwerte der Lebensmittel, die wir zu uns nehmen, sondern auch unsere Mikrobengemeinschaften. Durch Mangelernährung in den ersten Lebensjahren wird die gesunde Entwicklung des Darmmikrobioms gestört, was wiederum den Entwicklungsprozess betroffener Kinder negativ beeinflusst und Krankheiten begünstigt.

Jeffrey Gordon wurde von der Internationalen Balzan-Stiftung für seine Forschungsarbeit zum Thema "Mikrobiom in Gesundheit und Krankheit" geehrt.
Foto: Balzan Foundation/Peter Mosimann

STANDARD: Gibt es eine Lösung dafür?

Gordon: Mithilfe von Machine-Learning lassen sich bestimmte Bakterienstämme identifizieren, deren Anzahl im Darm mit unterschiedlichen Wachstumsschritten bei Kindern korreliert. Im Mikrobiom unterernährter Kinder sind diese Bakterien unterrepräsentiert. Bei der Suche nach einem therapeutischen Ansatz zur "Reparatur" des Mikrobioms konzentrierten wir uns also auf die fehlenden Organismen. Und es stellte sich heraus: Lebensmittel mit bestimmten Nährstoffen, die auf diese Mikroorganismen abgestimmt sind, führen zu einer positiven Veränderung im Mikrobiom – und zu einer stärkeren Gewichtszunahme bei den Kindern. Mit zielgerichteten Lebensmittelzubereitungen lässt sich sehr viel machen.

STANDARD: Wie groß ist das therapeutische Potenzial mikrobiell abgestimmter Kost in anderen Bereichen?

Gordon: Enorm. Ich denke, dass wir einen neuen Blick auf unsere Ernährung brauchen: Lebensmittel, deren Zusammensetzung die Funktion unseres Mikrobioms positiv beeinflusst, bieten große medizinische und gesellschaftliche Chancen. Unterernährung, Übergewicht, die wachsende Weltbevölkerung und die Bedrohung durch den Klimawandel stellen uns vor riesige Herausforderungen, die es nötig machen, unsere Lebensmittelproduktion zu optimieren und nachhaltiger zu gestalten. Mikroorganismen und ihre biochemischen Fähigkeiten bieten fantastische Möglichkeiten, uns dabei zu helfen. (Interview: David Rennert, 24.7.2022)