Es sei wahrscheinlich "ein wenig ungewohnt" für eine Eröffnungsrede, schickt Bundespräsident Alexander Van der Bellen voraus, als er sich an das Publikum der Bregenzer Festspiele wendet. Doch was gesagt werden müsse, müsse gesagt werden, sagt er einleitend auf der Bühne. Und das tat Van der Bellen dann auch – in seltener Schärfe.

"Wir alle sind froh und glücklich, heute hier sein zu dürfen. Gemeinsam ein Stück Kultur genießen, das tut gut, gerade nach dieser langen Zeit der Entbehrungen", beginnt Van der Bellen in Anspielung auf die zwei harten Pandemiejahre. "Aber haben wir sie wirklich hinter uns?", fragt er.

Nicht "in die eigene Tasche lügen"

Der Bundespräsident habe immer die Ansicht vertreten, die Dinge nicht schlechtzureden. Aber man dürfe sich auch "nicht in die eigene Tasche lügen". Man müsse zur Kenntnis nehmen, "dass, wenn dieser Abend vorbei ist, wenn diese Festspiele vorbei sind, wenn dieser Sommer vorbei ist, spätestens wenn der Winter kommt, wir in ein massives Energieproblem laufen". Sofern nicht jetzt gehandelt werde.

"Ja, die Politik hat hier Fehler gemacht. Und ja, auch ich selbst habe mich täuschen lassen und in vermeintlicher Sicherheit gewiegt", sagt Alexander Van der Bellen über die Beziehung Österreichs zu Russland.
Foto: APA/EXPA/JFK

Van der Bellen spricht den Preisanstieg für viele alltägliche Produkte an. Hunderttausende Menschen in Österreich hätten Angst und seien am Rande der Verzweiflung. "Alleinerziehende Mütter und Mindestpensionisten, aber auch Menschen, die bislang keine gröberen Geldsorgen hatten", sagt Van der Bellen.

"Wir leben in einer Zeit, in der die Grundelemente unseres Lebens angegriffen werden. Der Friede in Europa, unsere Demokratie, die Art, wie wir leben wollen, unsere Versorgungssicherheit, unsere Sicherheit insgesamt", führt der Bundespräsident aus. Warum derzeit alles so unsicher sei? "Weil in Moskau ein Diktator herrscht, der es nicht ertragen kann, dass Menschen in Europa in individueller Freiheit und Unabhängigkeit leben wollen. Der vom verweichlichten, dekadenten Westen redet, der unsere Art zu leben zutiefst verachtet."

Putin "wird das Gas abdrehen, wenn es ihm gefällt"

Wenn Van der Bellen vom "Diktator" spricht, meint er selbstredend Russlands Präsidenten Wladimir Putin, der "Bomben auf Städte und Dörfer werfen" lasse und Millionen Menschen in die Flucht treibe. Zehntausende hätten bereits ihr Leben verloren. "Während wir heute die Festspiele eröffnen, harren Familien in ukrainischen Städten in Kellern und Luftschutzbunkern aus. Und weil das alles aus Sicht des russischen Präsidenten nicht genug ist, drosselt er die Gasversorgung in Europa. Und machen wir uns nichts vor, er wird sie ganz abdrehen, wann immer es ihm gefällt", konstatiert Van der Bellen.

Diese Abhängigkeit sei "unerträglich". Ebenso unerträglich sei es aber, wenn man auch nur mit dem Gedanken spiele, "sich zum unterwürfigen Verbündeten des Diktators zu machen" – womit Van der Bellen offensichtlich die österreichische und europäische Energiepolitik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte anspricht. Heimische Regierungen hätten die Gefahr der Abhängigkeit von Putins Gas nicht gesehen oder ignoriert. Die Politik habe Fehler gemacht. "Und ja, auch ich selbst habe mich täuschen lassen. Ich habe Putin anders eingeschätzt."

Inflation als "kriegerischer Akt"

Aus Sicht Van der Bellens müssten nun zwei Dinge geschehen. "Einerseits, dass wir beim Namen nennen müssen, worum in der Ukraine gekämpft, gemordet, gestorben wird: Nicht nur für die Unabhängigkeit der Ukraine. Um unser aller Lebensmodell, um politische Freiheit, persönliche Freiheit, den Rechtsstaat, Menschenrechte und Demokratie", sagt er. Die Energiekrise sei "ein bewusst herbeigeführter, kriegerischer Akt". Und auch die Inflation, die daraus entsteht, sei "ein bewusst herbeigeführter, kriegerischer Akt".

Man könne die Zeit nicht mehr zurückdrehen. "Nichts wird mehr so wie früher", konstatierte Van der Bellen. "Friede und Wohlstand sind nicht mehr selbstverständlich in Europa." Das seien Tatsachen. Das sei anzuerkennen, "damit wir uns befreien können". Erst dann sei es möglich, sich nach vorn zu entwickeln und mutig in die Zukunft zu gehen. "Damit wir das tun können, müssen wir vereint sein", sagt Van der Bellen. "Wir dürfen uns nicht spalten lassen. Denn auch das gehört zu Putins Plan: dass wir uns gegeneinander ausspielen und aufhetzen lassen."

Van der Bellen gegen Neuwahlen

Dafür habe es ausreichend Gelegenheiten gegeben. Und es gebe sie nach wie vor: die Pandemie, die Inflation, die Energieknappheit. "Wir sind alle gefordert!" Insbesondere sieht Van der Bellen jedoch die Regierung in der Pflicht. Sie müsse jetzt – "sorry", wie er sagt – "arbeiten, arbeiten, arbeiten". "Ein Österreich, in dem Familien, Pensionisten, arme Menschen im Winter frieren müssen, weil sie sich die Energie nicht mehr leisten können – das ist nicht das Land, in dem wir leben möchten", sagt er.

Viele Menschen würden sich von ihm wünschen, dass er Neuwahlen herbeiführe. Dafür erntet er kurzen Applaus. Doch das wolle Van der Bellen nicht, wie er sagt. "Ich sehe meine Verantwortung darin, gerade in dieser Zeit die größtmögliche Stabilität zu garantieren. Und dafür zu sorgen, dass wir Wochen und Monate völliger Unmanövrierbarkeit vermeiden." Dafür bekommt er noch mehr Applaus.

Zuletzt wurde Van der Bellen dafür kritisiert, keine klaren Worte in Bezug auf die Korruptionsvorwürfe gegen ÖVP-Politiker zu finden. Auch dieses Thema greift er zum Schluss seiner Ansprache auf, wenn auch nur mit einem Satz: Es brauche "umfassende Aufarbeitung und Aufklärung".

"Wir müssen solidarisch sein"

Das Wichtigste sei nun Solidarität: "Wir werden all das, was jetzt passiert und passieren wird, nur bewältigen, wenn wir zusammenhalten. Wir müssen solidarisch sein." Dann erklärt Van der Bellen die Bregenzer Festspiele für eröffnet, das Orchester spielt Beethovens "Ode an die Freude". (Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, 20.7.2022)