Greenpeace-Aktivisten bei einem anderen Protest gegen Atomkraft.

Foto: AFP / Sameer Al-Doumy

Berlin/Wien/Kiew – Die Radioaktivitätswerte nahe der Atomruine Tschernobyl in der Ukraine überschreiten nach Messungen der Umweltschutzorganisation Greenpeace den internationalen Grenzwert für Atommüll bis um das Vierfache. Die Werte seien mindestens dreimal so hoch wie die Schätzungen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), kritisierte Greenpeace am Mittwoch. Ein Expertenteam der Organisation hatte dort drei Tage lang Messungen vorgenommen.

Der Greenpeace-Atomexperte Jan Vande Putt warf IAEA-Chef Rafael Grossi ein "unzulängliches Risikomanagement" in Bezug auf Tschernobyl vor. Die IAEA habe sich nur auf bestimmte Dosisraten konzentriert. Durch die von russischen Soldaten in der Atomruine aufgewühlte Erde herrsche aber ein viel komplexeres Bild vor. Die von Greenpeace gemessene radioaktive Strahlung sei zwischen 0,2 und 7,7 Mikrosievert pro Stunde gelegen.

"Verbrechen gegen Umwelt und Wissenschaft"

"Der IAEA fehlt es an Objektivität. Sie schätzt die Risiken der Atomkraft nicht unabhängig ein", sagte Thomas Breuer, Atomexperte von Greenpeace-Deutschland. Die Umweltorganisation warf der IAEA außerdem besonders enge Beziehungen zur staatlichen russischen Atombehörde Rosatom vor.

Greenpeace beschuldigte Russland, im Zuge der Besatzung der Atomruine Tschernobyl ein "Verbrechen gegen die Umwelt und gegen die globale Wissenschaft" zur Vermeidung von Atomgefahren begangen zu haben. Des weiteren stelle das russische Vorgehen auch ein Verbrechen gegen die Arbeiter und Feuerwehrleute in der Atomanlage dar. Landminen und die Zerstörung von Monitoringsystemen zur Messung von Radioaktivität würden insbesondere die Feuerwehren vor große Probleme stellen.

Nach Angaben von Sergiy Kirieev, Generaldirektor des SSE Ecocentre in Tschernobyl, haben russische Soldaten ein Fläche von 80 Quadratkilometer Wald in der Sperrzone von Tschernobyl durch Feuer zerstört. "Russische Soldaten haben in radioaktivem Abfall gegraben und Atommüll verbrannt", sagte er.

AKW als "Zeitbombe"

Der Greenpeace-Atomexperte Shaun Burnie forderte den sofortigen Abzug des russischen Militärs aus dem Atomkraftwerk Saporischschja im Südosten der Ukraine. Das AKW sei "eine tickende Zeitbombe". Es könne angesichts des Kriegs zu weit schwerwiegenderen Atomunfällen kommen als in Tschernobyl.

Die Grünen forderten eine unabhängige Behörde für den Strahlenschutz. "Die neuen Messwerte aus Tschernobyl sind erschreckend hoch", sagte der Anti-Atom-Sprecher der Grünen, Martin Litschauer, laut Aussendung. " Der Radioökologe Georg Steinhauser sieht die Meldung kritisch: Es handle sich keinesfalls um erschreckend hohe neue Messwerte. Ungewöhnliche und besorgniserregende Werte würden bei den regulären Messungen im Rest Europas auffallen – was aktuell nicht der Fall sei.

Nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima, aber auch jetzt, mehren sich Stimmen, dass die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) nicht transparent mit Zahlen umgeht und vor allem den Schutz der Umwelt nicht im Fokus hat." (APA, red, 20.7.2022)