Es war eine harte Rede, eine regelrechte Abrechnung, die Mario Draghi dem Senat serviert hat. Frustriert und verärgert über die permanenten Querschüsse und Ultimaten, die er in den letzten Monaten seitens seiner Koalitionspartner erleben musste, warf er den Parteien vor, aus durchschaubaren wahlpolitischen Motiven seine Reformen zu torpedieren und ihre Einzelinteressen über das Gemeinwohl zu stellen. Und er machte klar, dass er sich nicht mit einem "Scheinvertrauen" – eine Spezialität der italienischen Politiker – zufriedengeben werde, falls er die Regierungsgeschäfte weiterführen werde.

Mario Draghi adressiert den versammelten Senat.
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Die unannehmbaren Forderungen von Lega-Chef Matteo Salvini und Ex-Premier Silvio Berlusconi haben die Kritik Draghis an den Parteien bestätigt und stellen eine Weiterführung der Regierung mit Draghi massiv infrage. Aber egal, wie die Hängepartie im Senat und im Abgeordnetenhaus ausgehen wird: Letztlich geht es bei dieser unnötigsten Regierungskrise der letzten Jahre in Italien lediglich darum, ob in Italien schon Anfang Oktober oder erst acht Monate später ein neues Parlament gewählt wird: Anfang März 2023 stehen ohnehin Wahlen an. Draghi könnte bis dann zwar noch vieles für sein Land tun, aber das Wohl oder Wehe Italiens hängt nicht von diesen paar Monaten ab.

Denn danach wird die Zeit wieder zurückgedreht: Bei den Neuwahlen wird, egal ob sie im Oktober oder im März stattfinden, mit hoher Wahrscheinlichkeit das Rechtsbündnis aus Berlusconis Forza Italia, Salvinis Lega und Giorgia Melonis Fratelli d’Italia gewinnen. Möglicherweise wird dann Meloni erste Ministerpräsidentin Italiens – eine Politikerin, deren Partei auf das postfaschistische Movimento Sociale Italiano zurückgeht und die sich bis heute ungemein schwer damit tut, sich vom Faschismus zu distanzieren.

Die unannehmbaren Forderungen von Lega-Chef Matteo Salvini haben die Kritik Draghis an den Parteien bestätigt.
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Diese Aussicht ist schon mulmig genug, aber nicht der einzige und auch nicht der größte Grund zur Sorge. Die aktuelle Regierungskrise hat schonungslos das zentrale Problem der italienischen Politik aufgezeigt: die vollkommene Blind- und Taubheit fast aller Parteien gegenüber den realen und zugleich riesigen Problemen ihres Landes. Anders ist es nicht zu erklären, dass sie die Lichtgestalt Draghi ins Messer laufen ließen und die von ihm begonnenen Reformen und das zurückgewonnene Prestige so leichtfertig aufs Spiel setzten.

Nicht nur für Italien, auch für die europäischen Partner ist der absehbare Abschied Draghis eine schlechte Nachricht: Brüssel verliert den vielleicht überzeugtesten Europäer und gleichzeitig den Garanten für finanzpolitisch verantwortliches Gebaren in Rom. Zwar konnte auch der ehemalige EZB-Chef die Schulden wegen Pandemie und Ukraine-Krieg noch nicht entscheidend senken, aber er sorgte dafür, dass sie nicht vollends aus dem Ruder lief. Die Parteien dagegen träumen im Hinblick auf die Wahlen längst wieder von Steuersenkungen und Wahlgeschenken.

Es bestanden deshalb schon vor Salvinis und Berlusconis Ultimatum berechtigte Zweifel, ob Draghi mit diesen Parteien noch einmal ein Neustart gelingen könnte. Wahrscheinlich stellte er sich diese Frage auch selber. Tatsächlich hatten die Parteien seinen Reformzug ja schon Monate vor seiner Rücktrittsankündigung ins Stocken gebracht. Am Mittwoch wollte er den Parteien nochmals eine Chance geben. Sie dürfte vertan werden. (Dominik Straub, 20.7.2022)