Christian Schmidt hat für viel Wirbel gesorgt.

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Es war ein Hinterzimmerdeal, der geschickt verschleiert und geheim gehalten wurde. Vor dem Nato-Gipfel am 7. Juli in Paris gaben die USA und Großbritannien offenbar dem Druck des Nato-Staates Kroatien nach, in Bosnien-Herzegowina noch kurz vor der Wahl am 2. Oktober die Entsendeformel für das Haus der Völker im Landesteil Föderation zu verändern, nämlich so, wie es eine Neun-Prozent-Partei, die kroatisch-nationalistische Partei HDZ, in Bosnien-Herzegowina seit Monaten mit großem Nachdruck und mithilfe von Kroatien einfordert. Der kroatische Präsident Zoran Milanović hatte im Vorfeld gedroht, den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden zu verhindern. Das hatte offenbar gewirkt.

In der Folge forderten die USA und Großbritannien auf Druck von Kroatien offenbar den Hohen Repräsentanten von Bosnien-Herzegowina, den deutschen Politiker Christian Schmidt, auf, die Bonner Vollmachten zu verwenden, um die Entsendeformel tatsächlich zu ändern. Am Dienstag wurde das Vorhaben dann publik, die genauen Vorschläge werden langsam geleakt und führen in Bosnien-Herzegowina zu großer Verunsicherung und Aufregung.

Kritik der Wahlkommission

Auch der Leiter der Wahlkommission, Suad Arnautović, übt Kritik, weil Schmidt ihn in der Sache nicht vorher konsultiert hat. "Leider hat der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, Herr Schmidt, die Zentrale Wahlkommission von Bosnien-Herzegowina noch nicht offiziell besucht, obwohl schon vor langer Zeit eine Einladung verschickt wurde", so Arnautović zum STANDARD.

"Wir denken, dass jede Änderung des Wahlgesetzes, die Auswirkungen auf die Arbeit der Zentralen Wahlkommission und Änderungen der Regeln für die Arbeit der lokalen Wahlkommissionen 60 Tage vor dem Wahltag hätte, zum jetzigen Zeitpunkt nicht wünschenswert wäre, weil wir befürchten, dass dies mehr Probleme als Vorteile bereiten könnte. Wir sagen dies, weil wir den Inhalt der in Vorbereitung befindlichen Änderungsanträge nicht kennen. Unserer Meinung nach sollten alle Änderungen, die sich auf das Vorgehen der Wahlkommission auswirken, in Absprache mit der Wahlkommission von Bosnien-Herzegowina vorgenommen werden."

Deutschland bezieht nicht Stellung

Mit der Änderung könnte in der Entsendeformel ein neues Prinzip eingeführt werden würde, dass die verfassungsrechtliche Struktur von Bosnien-Herzegowina anders definieren würde. Es geht um die alte HDZ-Vorstellung von einer sogenannten "legitimen Repräsentation", einem völkisch-nationalistischen Konzept, das eine zusätzliche Territorialisierung des Landes nach ethnischen Kriterien einführen würde. Bisher haben sich vor allem Deutschland, aber auch andere EU-Staaten gegen diese weitere Spaltung gewandt. Nun ist die Lage aber unklar, weil Deutschland noch nicht Stellung bezieht.

Rechtsexperten warnen davor, dass Schmidt der HDZ nachgibt. Der Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Faris Vehabović meint etwa zum STANDARD: "Für die zukünftige Glaubwürdigkeit des Amtes des Hohen Repräsentanten ist es äußerst gefährlich, Fragen des Wahlgesetzes anzugehen, die zuvor Gegenstand erfolgloser Verhandlungen der politischen Parteien waren." Tatsächlich gab es in den vergangenen Monaten im bosnischen Parlament keine Mehrheiten für die Änderungen, weil es sich eben ausschließlich um ein Anliegen der HDZ handelt.

Chaosproduktion in der Verfassung

Vehabović verweist darauf, dass der Hohe Repräsentant noch kein offizielles Dokument mit den Vorschlägen veröffentlicht hat, doch aufgrund der jetzigen Lawine negativer Reaktionen wäre es für Schmidt wohl jetzt bereits schwierig, seine Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, wenn er die Vorschläge umsetzen würde. Außerdem könne jegliche Änderung des Wahlgesetzes zu Verfahren vor dem Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina und dem Europäischen Gerichtshof führen. Wenn man also an einer Schraube dreht, dann könnte die Konstruktion mit den vielen Rädchen und Verzahnungen zum Durchdrehen im Maschinenraum führen.

Wenn Schmidt beispielsweise mit seinen Entscheidungen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Bezug auf Diskriminierungen im Wahlgesetz missachten würde, wäre seine Entscheidung offen für jede Art von Angriff. Wenn er damit Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs missachten würde, wie einen bekannten Fall wegen Diskriminierung im Wahlverfahren der Präsidenten und Vizepräsidenten, würde er wohl der Inkonsequenz bezichtigt, "was um der Einrichtung des Amtes des Hohen Repräsentanten willen um jeden Preis vermieden werden muss", so Vehabović.

Keine Ethnokratie

Tatsächlich weisen die Urteile des EGMR zu Diskriminierungen in der bosnischen Verfassung darauf hin, dass Demokratie, die auf Ethnizität als erstem und wichtigstem Kriterium basiert, nicht gelingen kann und jedem Bürger die gleiche Chance gegeben werden müsse, an Wahlen teilzunehmen. Ethnizität als wichtigstes Kriterium steht allerdings im Zentrum jenes Prinzips der "legitimen Repräsentation", das die HDZ propagiert und das nun eingeführt werden könnte. Selbst wenn die Vorschläge von Schmidt also an der Oberfläche keine riesigen Auswirkungen haben, in die prinzipielle Ausrichtung würden sie tief eingreifen.

"Es gibt nur eine Demokratie – keine ethnische Demokratie oder Ethnokratie, sondern eine Demokratie, die auf liberalen Werten, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte basiert, und jede Maßnahme von Herrn Schmidt, die dieses Ziel zunichtemacht, wäre ein gigantischer Fehlschlag. Wenn ich die Fähigkeit hätte, in die Zukunft zu blicken, würde ich wahrscheinlich viele Fälle vor dem Verfassungsgericht und dem EGMR sehen, aber lassen Sie uns zuerst sehen, was in naher Zukunft passieren wird", so Vehabović zum STANDARD.

Drei-Prozent-Hürde

Eingeführt werden soll konkret eine Drei-Prozent-Hürde, sodass aus Kantonen, wo weniger als drei Prozent einer Volksgruppe leben, Vertreter dieser Volksgruppe nicht mehr ins Haus der Völker geschickt werden sollen. Das würde dazu führen, dass aus dem Kanton Bosnisches Podrinje kein Kroate mehr ins Haus der Völker entsandt werden würde, sodass die HDZ dadurch automatisch mehr ihrer Leute im Haus der Völker sitzen haben würde. Die Partei von Dragan Čović würde damit de facto in die Verfassung der Föderation Bosnien-Herzegowina eingetragen. Im Haus der Völker kann die HDZ alles blockieren, wenn sie mindestens zwölf Abgeordnete stellt, und sie blockiert auch seit Jahren. So hat aufgrund der Erpressungspolitik der HDZ die Föderation seit vier Jahren keine Regierung, es fehlt aber auch an Kandidaten für den Verfassungsgerichtshof.

Für die Entsendung von Serben ins Haus der Völker hätte die neue Entsendeformel aber noch viel weitreichendere Auswirkungen. Aus drei von zehn Kantonen (Bosnisches Podrinje, West-Herzegowina und Posavina) könnten sie dann nicht mehr ins Haus der Völker der Föderation entsandt werden. Allerdings war es in einigen Kantonen schon bisher schwierig, Kandidaten für die Volksgruppen zu finden, und es kam dazu, dass andere, die nicht der Volksgruppe angehören, ihre Plätze einnahmen. Schmidt will die Änderung der Entsendeformel mit der Endblockierung der Föderation verbinden. So soll etwa die HDZ dazu gebracht werden, Kandidaten für die Präsidentschaft in der Föderation benennen zu müssen. Dafür will Schmidt bestimmte Deadlines einführen.

Appeasement gegenüber jenen, die drohen

All die Schmidt-Vorschläge basieren aber im Grunde darauf, dass man auf die Drohpolitik der HDZ eingeht. Erst kürzlich wurde ein Gespräch in der Herzegowina abgehört, in dem Leute vor einem "heißen Herbst", gewaltsamen Ausschreitungen und der Ausrufung eines dritten Landesteils sprachen. Aus Angst vor einem Kollaps nach den Wahlen im Herbst will man nun offenbar diese kroatischen Nationalisten beschwichtigen.

Zu dem Deal mit der internationalen Gemeinschaft gehört offenbar auch, dass die beiden extremen Nationalisten, der Chef der kroatischen HDZ, Dragan Čović, und sein politischer Verbündeter, der Pro-Kreml-Politiker Milorad Dodik, der den Staat Bosnien-Herzegowina zerstören will, auf die Kandidatur für die Staatspräsidentschaft bei den Wahlen am 2. Oktober verzichtet haben.

Rechtlich nicht notwendig

Dafür soll Čović möglicherweise nun belohnt werden. Eines steht fest: Die Änderung der Entsendeformel ist rechtlich nicht notwendig. Der Grazer Verfassungsrechtler Joseph Marko, ein Experte für die Verfassung von Bosnien-Herzegowina, wies bereits im Vorjahr darauf hin, dass das bosnische Verfassungsgericht bereits 2017 jene Bestimmungen im Wahlgesetz für aufgehoben erklärt hat, die verfassungswidrig waren. Die Wahlkommission hat in der Folge den Verteilungsschlüssel bestimmt. Das könnte auch weiterhin so geschehen.

In Bosnien-Herzegowina gibt es seit Tagen viel Kritik an dem möglichen Vorhaben von Schmidt. So meinte etwa der nicht-nationalistische, moderat linke Politiker Željko Komšić, der im dreiköpfigen Staatspräsidium sitzt, dass die Änderung des Wahlgesetzes "eine weitere Teilung Bosnien und Herzegowinas auf ethnischer Basis" und "eine weitere Diskriminierung von Bürgern in der Föderation" bedeuten würde. Um das Haus der Völker werde offenbar ein wütender Kampf geführt.

Multiethnische Geschichte

Damir Arnaut, ein Parlamentarier auf Staatsebene, forderte Schmidt auf, jenes Prinzip nicht zu verändern, wonach aus jedem Kanton ein Vertreter von einer der drei großen Volksgruppen (Bosniaken, Serben, Kroaten) entsendet wird. "Diese Bestimmung steht symbolisch für die jahrhundertelange multiethnische Geschichte Bosnien und Herzegowinas und verkörpert den Grundsatz, dass die Mitglieder der verfassungsgebenden Nationen auf jedem Zentimeter des Territoriums völlig gleich sind", argumentiert Arnaut.

"Bitte machen Sie keinen historischen Fehler und keine Ungerechtigkeit, indem Sie dieses Prinzip mit Ihrer Entscheidung ändern", schrieb er an Schmidt. Denn diese Entsendeformel stelle auch klar, dass die Mitglieder jeder Volksgruppe die Interessen des gesamten Landes vertreten können und nicht nur die ihrer eigenen Gruppe. Unklar ist auch, auf Grundlage welcher Volkszählung Schmidt die Entsendeformel neu definieren will. Denn der Annex 7 des Daytoner Friedensvertrags ist noch nicht umgesetzt, dabei geht es um die Rückkehr der Flüchtlinge, was die Volkszählung beeinflussen könnte. Die Volkszählung von 2013 dürfte demnach wohl nicht als Grundlage verwendet werden.

Neue Bedingungen für Kandidatenstatus

Zu den neuen Vorhaben gehört offenbar auch die Idee, dem Staat einen EU-Kandidatenstatus zu verleihen, was allerdings angesichts der EU-Politik gegenüber anderen Kandidatenstaaten wenig Bedeutung hat. So hatte Nordmazedonien 17 Jahre lang den Kandidatenstatus und wird immer wieder blockiert.

Der neue slowenische Premierminister Robert Golob hat die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und den Präsidenten des EU-Rates, Charles Michel, in einem Schreiben aufgefordert, Bosnien-Herzegowina den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu gewähren, wenn die Regierung in Sarajevo zwei Gesetzesvorlagen umsetzt. Dann soll – Diplomaten zufolge – auch Deutschland seine Zustimmung zum Kandidatenstatus geben. Bisher galt, dass Bosnien-Herzegowina 14 Reformprioritäten umsetzen muss. Nun werden offenbar andere Bedingungen gesetzt.

Verantwortung

Golob argumentierte, die EU müsse ihren Anteil an der Verantwortung für die Situation im Land und die neue geopolitische Realität in Europa berücksichtigen. Als Bedingungen nannte Golob ein Gesetz über den Hohen Justiz- und Staatsanwaltschaftsrat sowie ein Gesetz über das öffentliche Beschaffungswesen. Auch solle Bosnien-Herzegowina eine Strategie zur Reform der öffentlichen Verwaltung sowie einen Aktionsplan und eine Strategie für die Verwaltung der öffentlichen Finanzen verabschieden. (Adelheid Wölfl, 21.7.2022)